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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot
Autoren: Tess Gerritsen
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wo er den Detectives und dem Spurensicherungsteam nicht im Weg war, den Blick starr auf das Loch im Boden gerichtet, das fast zum Grab für seine Frau und seine Tochter geworden wäre. Der Ort des Geschehens war mit Absperrband eingefasst, und batteriebetriebene Scheinwerfer tauchten die Leiche des Mannes in grelles Licht. Maura Isles, die vor dem Toten gekauert hatte, richtete sich auf und wandte sich zu den Detectives Moore und Crowe um.
    »Ich erkenne drei Einschusswunden«, sagte sie. »Zwei in der Brust und eine in der Stirn.«
    »Das stimmt mit dem überein, was wir gehört haben«, sagte Gabriel. »Drei Schüsse.«
    Maura sah ihn an. »In welchem Abstand?«
    Gabriel dachte darüber nach, und erneut wallte Panik in ihm auf. Er erinnerte sich daran, wie er in den Wald gestürzt war, wie mit jedem Schritt die Angst vor dem, was er vorfinden würde, mehr von ihm Besitz ergriffen hatte. »Die ersten zwei Schüsse fielen kurz hintereinander«, sagte er.
    »Der dritte folgte fünf oder zehn Sekunden später.«
    Maura schwieg, während ihr Blick sich wieder auf die Leiche richtete. Sie starrte auf das blonde Haar des Mannes hinunter, seine massigen Schultern. Eine SIG Sauer lag neben seiner rechten Hand.
    »Tja«, meinte Crowe, »sieht nach einem klaren Fall von Notwehr aus.«
    Niemand sagte etwas, niemand erwähnte die Schmauchspuren im Gesicht des Toten oder die längere Zeitspanne zwischen dem zweiten und dem dritten Schuss. Aber alle wussten Bescheid.
    Gabriel drehte sich um und ging zum Haus zurück.
    Die Einfahrt war inzwischen mit Fahrzeugen verstopft. Er hielt inne, vorübergehend geblendet vom flackernden Blaulicht der Streifenwagen. Dann entdeckte er Helen Glasser, die das Mädchen gerade auf den Beifahrersitz ihres Wagens verfrachtete.
    »Wohin bringen Sie sie?«
    Glasser wandte sich zu ihm um, und ihr Haar reflektierte das Rundumlicht wie bläulich glänzende Metallfolie. »An einen sicheren Ort.«
    »Gibt es so einen Ort für sie?«
    »Glauben Sie mir, ich werde einen finden.« Glasser blieb an der Fahrertür stehen und blickte sich zum Haus um.
    »Wissen Sie, dieses Video ändert alles. Und wir können Lukas umkrempeln. Er hat jetzt keine Wahl; er muss mit uns kooperieren. Sie sehen also, es bleibt nicht alles an dem Mädchen hängen. Sie ist wichtig, aber sie ist nicht die einzige Waffe, die wir haben.«
    »Trotzdem – wird es ausreichen, um Carleton Wynne zu Fall zu bringen?«
    »Niemand steht über dem Gesetz, Agent Dean.« Glasser sah ihn an, und ihre Augen blitzten wie kalter Stahl. »Niemand.« Sie schlüpfte hinter das Lenkrad.
    »Warten Sie«, rief Gabriel. »Ich muss mit dem Mädchen sprechen.«
    »Und wir müssen los.«
    »Es wird nur eine Minute dauern.« Gabriel ging um den Wagen herum zur Beifahrerseite, öffnete die Tür und sah zu Mila hinein. Sie hatte die Arme um den Leib geschlungen und schmiegte sich ängstlich in den Sitz, als traute sie seinen Absichten nicht. Sie ist fast noch ein Kind, dachte er, und doch ist sie zäher als wir alle. Wenn man ihr auch nur den Hauch einer Chance lässt, wird sie immer auf die Füße fallen.
    »Mila«, sagte er sanft.
    Sie erwiderte seinen Blick mit Augen voller Misstrauen. Vielleicht würde sie nie wieder einem Mann vertrauen – und warum sollte sie auch?
Sie hat das Schlimmste erlebt, wozu wir fähig sind.
    »Ich wollte Ihnen danken«, sagte er. »Dafür, dass Sie mir meine Familie wiedergegeben haben.«
    Da war er – der leiseste Hauch eines Lächelns. Es war mehr, als er erwartet hatte.
    Er schlug die Tür zu und nickte Glasser zu. »Bringen Sie ihn zur Strecke«, rief er.
    »Dafür zahlt man mir schließlich das fette Gehalt«, erwiderte sie lachend und fuhr davon, gefolgt von einem Wagen des Boston PD als Geleitschutz.
    Gabriel stieg die Stufen zum Haus hinauf. Drinnen fand er Barry Frost im Gespräch mit Barsanti, während Mitarbeiter des FBI-Erkennungsdiensts Lukas’ Computer und Kartons mit seinen Akten hinaustrugen. Der Fall war nun offensichtlich eine Angelegenheit der Bundesbehörden, und das Boston PD würde die Leitung der Ermittlungen an das FBI abgeben müssen. Und dennoch, dachte Gabriel – wird es ihnen gelingen, an die wahren Verantwortlichen heranzukommen? Dann sah Barsanti ihn an, und Gabriel erkannte in seinen Augen die gleiche Entschlossenheit, die er bei Glasser bemerkt hatte. Und er sah, dass Barsanti die Videokassette in den Händen hielt. Und sie eifersüchtig bewachte, als sei es der Heilige Gral selbst, der ihm
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