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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot
Autoren: Tess Gerritsen
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ihrer samtweichen Wangen. Wie konnte ich dich in diese Sache hineinziehen?, dachte sie. Einen schlimmeren Fehler kann eine Mutter nicht machen. Und jetzt wirst du mit mir sterben.
    »Weitergehen«, sagte der Mann.
    Ich habe mich früher schon gewehrt und habe überlebt. Ich kann es wieder schaffen. Ich
muss
es wieder schaffen.
Für dich.
    »Oder soll ich es gleich hier an Ort und Stelle erledigen?«, fragte er.
    Sie holte tief Luft, sog den Geruch der Bäume und des feuchten Laubs in ihre Lungen. Sie dachte an die Skelette, die sie letzten Sommer im Stony-Brook-Naturreservat untersucht hatte. An die Ranken, die sich durch die leeren Augenhöhlen geschlängelt und den Schädel mit ihren gierigen Fingern umschlungen hatten. An die fehlenden Hände und Füße, abgenagt und verschleppt von Aasfressern. Sie spürte ihren eigenen Puls, das Pochen in ihren Fingerspitzen, und dachte daran, wie klein und zerbrechlich die Knochen in einer Menschenhand waren. Wie leicht sie auf dem Waldboden verstreut werden konnten.
    Sie setzte sich wieder in Bewegung, drang tiefer in den Wald ein. Behalte bloß einen klaren Kopf, sagte sie sich. Wenn du in Panik gerätst, hast du keine Chance mehr, ihn zu überraschen. Keine Chance mehr, Regina zu retten. Ihre Sinne schärften sich. Sie konnte das Blut spüren, das durch ihre Waden gepumpt wurde, konnte beinahe jedes einzelne Molekül der Luft fühlen, die über ihr Gesicht strich. Jetzt wirst du erst so richtig lebendig, dachte sie, jetzt, da du jeden Moment sterben wirst.
    »Ich glaube, das ist weit genug«, sagte der Mann.
    Sie standen auf einer kleinen Lichtung. Ein Ring von Bäumen umstand sie wie stumme Zeugen. Die Sterne funkelten kalt am Himmel. Nichts von alldem wird sich ändern, wenn ich tot bin. Die Sterne sind gleichgültig. Die Bäume sind gleichgültig.
    Er warf ihr den Spaten vor die Füße. »Los, fangen Sie an zu graben.«
    »Was ist mit meinem Baby?«
    »Legen Sie es ab, und fangen Sie an zu graben.«
    »Der Boden ist so hart.«
    »Das ist ja wohl jetzt nicht so wichtig.« Er ließ die Windeltasche vor ihren Füßen fallen. »Legen Sie das Kind da drauf.«
    Jane kniete sich auf den Boden. Ihr Herz hämmerte jetzt so wild, dass sie glaubte, es müsse ihren Brustkorb sprengen. Ich habe eine einzige Chance. In die Tasche greifen, die Waffe fassen. Herumfahren und losballern, ehe er weiß, wie ihm geschieht. Keine Gnade – puste ihm einfach das Gehirn weg.
    »Armes Baby«, murmelte sie, als sie sich über die Tasche beugte. Als sie unauffällig die Hand hineinschob. »Mommy muss dich jetzt hinlegen …« Ihre Finger tasteten ihre Geldbörse, ein Babyfläschchen, Windeln.
Meine Waffe. Wo ist meine verdammte Waffe?
    »Nun legen Sie schon das Baby hin.«
    Sie ist nicht da.
Ihr angehaltener Atem entlud sich in einem Schluchzer.
Natürlich hat er sie an sich genommen. Er ist doch nicht dumm. Ich bin Polizistin; er konnte sich denken, dass ich bewaffnet bin.
    »Graben Sie.«
    Sie beugte sich hinab, um Regina noch einmal zu küssen, dann legte sie sie auf den Waldboden, mit der Windeltasche als Kissen. Sie nahm den Spaten und stand langsam auf. Ihre Beine waren kraftlos, die ganze Hoffnung, die sie aufrecht gehalten hatte, war geschwunden. Er stand zu weit weg, als dass sie ihn mit dem Spaten hätte treffen können. Selbst wenn sie damit nach ihm warf, konnte sie ihn nur für ein paar Sekunden außer Gefecht setzen. Nicht genug Zeit, um Regina aufzuraffen und davonzulaufen.
    Sie blickte auf den Boden hinunter. Im Schein der Mondsichel sah sie Moos und eine lockere Laubschicht. Ihre Ruhestätte für die Ewigkeit.
Gabriel wird uns hier nie finden. Er wird es nie erfahren.
    Sie rammte den Spaten in die Erde und spürte, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen liefen, als sie zu graben begann.

36
    Die Wohnungstür war nur angelehnt.
    Gabriel blieb im Flur stehen, instinktiv alarmiert. Von drinnen hörte er Stimmen und Schritte. Er stieß die Tür ganz auf und trat ein. »Was tun Sie hier?«
    John Barsanti, der am Fenster stand, drehte sich zu ihm um. Seine erste Frage verblüffte Gabriel. »Wissen Sie, wo Ihre Frau ist, Agent Dean?«
    »Ist sie denn nicht hier?« Er fuhr herum, als eine zweite Person aus dem Kinderzimmer kam. Es war Helen Glasser vom Justizministerium. Ihr silbernes Haar war straff zu einem Pferdeschwanz gebunden, was die Sorgenfalten in ihrem Gesicht noch deutlicher hervortreten ließ.
    »Das Schlafzimmerfenster ist weit offen«, sagte sie.
    »Wie sind Sie beide
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