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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot
Autoren: Tess Gerritsen
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nicht. Verdammt, hier ist noch gar nichts besiegelt.
    Jane rammte den Spaten in den steinigen Boden, und obwohl ihr Rücken wehtat und ihre Arme vor Anstrengung zitterten, fühlte sie, wie der glühende Strom der Wut durch ihre Muskeln floss und ihr neue Kraft gab. Du wirst meinem Baby nichts antun, dachte sie. Eher reiße ich dir den Kopf ab. Sie wuchtete die Erde auf den Haufen. Schmerzen und Erschöpfung waren jetzt vollkommen vergessen; alle ihre Gedanken waren nur auf das gerichtet, was sie als Nächstes tun musste. Der Killer war nicht mehr als eine Silhouette am Rand der Lichtung. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie wusste genau, dass er sie beobachtete. Aber sie grub jetzt schon seit fast einer Stunde, behindert durch den felsigen Untergrund, und irgendwann musste er in seiner Aufmerksamkeit nachlassen. Was konnte eine total erschöpfte Frau schon gegen einen bewaffneten Mann ausrichten? Nichts, gar nichts sprach für sie.
    Nur das Überraschungsmoment. Und die Wut einer Mutter.
    Den ersten Schuss würde er überhastet abfeuern. Er würde zuerst auf den Rumpf zielen, nicht auf den Kopf. Was auch passiert, bleib in Bewegung, attackiere weiter. Eine Kugel ist selten sofort tödlich, und auch ein fallender Körper kann einen Mann umreißen.
    Sie bückte sich, um eine weitere Ladung Erde auszuheben. Der Spaten tauchte tief in den Schatten der Grube ein, vom Strahl seiner Taschenlampe abgeschirmt. Er konnte nicht sehen, wie sie die Muskeln anspannte, wie sie einen Fuß am Rand der Grube abstützte. Er konnte nicht hören, wie sie Luft holte, während ihre Hände sich fest um den Spatenstiel schlossen. Sie ging in die Hocke, spannte alle Muskeln zum Sprung.
    Das tue ich für dich, mein kleiner Schatz. Alles nur für dich.
    Mit einer einzigen Bewegung riss sie den Spaten hoch und schleuderte dem Mann die Erde ins Gesicht. Er taumelte zurück und stieß einen kehligen Überraschungslaut aus, als sie aus der Grube sprang. Und ihm den Kopf mit voller Wucht in den Bauch rammte.
    Sie gingen beide zu Boden, Zweige brachen unter dem Gewicht ihrer Körper. Jane wollte sich auf seine Waffe stürzen. Ihre Hände schlossen sich schon um sein Handgelenk, als sie plötzlich merkte, dass er sie gar nicht mehr in der Hand hielt. Sie musste ihm im Fallen entglitten sein.
    Die Pistole! Du musst die Pistole finden!
    Sie wand sich los und tastete hektisch im Unterholz nach der Waffe.
    Der Schlag warf sie zur Seite. Sie landete auf dem Rücken, und der Aufprall raubte ihr die Luft. Anfangs spürte sie keinen Schmerz, nur einen dumpfen Schock, als ihr klar wurde, dass der Kampf so bald schon entschieden war. Ihr Gesicht begann zu prickeln, und dann erst explodierte der eigentliche Schmerz in ihrem Schädel. Sie sah, dass er über ihr stand; sein Kopf verdeckte die Sterne. Sie hörte Regina weinen, die letzten Schreie ihres kurzen Lebens.
Armes Baby. Du wirst nie erfahren, wie sehr ich dich geliebt habe.
    »Los, rein in das Loch«, sagte er. »Es ist schon tief genug.«
    »Nicht mein Baby«, flüsterte sie. »Sie ist noch so klein …«
    »Rein mit dir, Miststück!«
    Der Tritt traf sie voll in die Rippen, und sie rollte auf die Seite, unfähig zu schreien, weil allein schon das Atmen so höllisch wehtat.
    »Los, beweg dich«, befahl er.
    Langsam rappelte sie sich auf und kroch zu Regina. Spürte, wie es ihr warm und feucht aus der Nase rann. Sie nahm das Baby in den Arm, drückte die Lippen auf die zarten Locken und wiegte den Oberkörper vor und zurück, während ihr Blut auf den Kopf des Kindes tropfte.
Mommy hält dich ganz fest. Mommy lässt dich nie mehr los.
    »Es ist Zeit«, sagte er.

37
    Gabriel starrte durch die Fenster von Janes Wagen, der vor dem Haus parkte, und sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ihr Handy steckte in der Halterung am Armaturenbrett, und der Babysitz war auf der Rückbank festgeschnallt. Er drehte sich um und leuchtete Peter Lukas mit der Taschenlampe ins Gesicht.
    »Wo ist sie?«
    Lukas’ Blick zuckte zu Barsanti und Glasser, die ein paar Schritte entfernt standen und die Auseinandersetzung schweigend verfolgten.
    »Das ist ihr Auto«, sagte Gabriel. »Wo ist sie?«
    Lukas hob die Hand, um seine Augen vor dem grellen Lichtstrahl zu schützen. »Sie muss an die Tür geklopft haben, als ich unter der Dusche war. Ich hatte gar nicht gesehen, dass ihr Wagen draußen stand.«
    »Zuerst ruft sie Sie an, und dann kommt sie zu Ihnen ins Haus. Warum?«
    »Ich weiß es nicht…«
    »Warum?«,
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