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Die Kalte Zeit

Die Kalte Zeit

Titel: Die Kalte Zeit
Autoren: Susanne Kliem
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1. Teil

    4. Dezember
    Konrad Verhoeven hielt es im Bett nicht mehr aus. Er schlug die Decke zur Seite und spürte, wie sein schweißnasser Körper abkühlte. Ein Blick zu Anna, die ihm den Rücken zudrehte. Sie atmete gleichmäßig.
    Quer über die Wand neben dem Fenster erstreckte sich ein Schatten. Er erinnerte Konrad an einen liegenden Mann, vielleicht sein eigenes dunkles Abbild, das er sich in den vielen durchwachten Nächten geschaffen hatte.
    Er zog sich an und öffnete leise die Zimmertür. Der Schatten streckte sich, als wolle er mit ihm hinaus.
    Draußen ging ein eisiger Wind. Konrad lief durch seine Tannenkulturen und über die Feldwege. Wolken hetzten über den Nachthimmel. Der Mond tauchte auf und verschwand, ein fernes Lämpchen, das jemand an- und ausknipste. Konrad richtete den Schein seiner Taschenlampe vor sich auf den staubigen Weg und erhöhte sein Tempo. Er erreichte die Straße, die sein Land teilte und überquerte sie. Ein erhabener Anblick! Vor ihm, schemenhaft im Mondlicht, reckten sich seine stolzen, fünfundzwanzig Meter hohen Nordmanntannen in den Himmel. Die Wolkendecke riss auf, silberweiß glitzerten Sterne. Wie damals, in den Nächten im Kaukasus. Tannenwälder, so weit das Auge reichte, schroffes Gebirge erhob sich dahinter, Schneeschimmern im Mondlicht. Luft wie der Atem Gottes. Konrad schloss die Augen und atmete tief ein. Nirgendwo war die Luft so rein wie in den Bergen von Borshomi.
    Konrad blinzelte, eine Träne lief seine Wange herab. Er hatte selten geweint in seinem bisherigen Leben. Alles geriet aus den Fugen. Die Erinnerung an früher war übermächtig geworden, sie quälte ihn Tag und Nacht. Mara. Marissa. Bei seinem Abschied hatte sie ein schwarzes Kleid getragen. Sie hatte ihre Hand auf die Wölbung ihres Bauches gelegt. Und ihn angesehen. Immer wieder sah er dieses Bild vor sich, bekam es nicht mehr aus dem Kopf. Die Frage, die ihn seitdem bewegte, hatte er nicht gestellt. Er war so ein Feigling gewesen.
    Damals war er nach Deutschland zurückgeflogen. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Seine Zweifel hatte er abgeschüttelt, verdrängt. Er hatte nicht anders handeln können. Zuhause hatte Anna mit der kleinen Gesa auf ihn gewartet. Und sein Hof, seine Firma, sein Land.
    Konrad hob den Blick zu seinen Tannen, Abies nordmanniana , Abkömmlinge ihrer stolzen Ahnen aus Borshomi. Gleich nach der Rückkehr hatte er sie gepflanzt. Marissa zu Ehren. Das war nun dreißig Jahre her. Seitdem war er noch oft nach Borshomi gefahren, aber er hatte Marissa nie wieder getroffen. Natürlich nicht. Weil er ihr Dorf gemieden hatte wie die Pest.
    Bald würden die polnischen Erntehelfer kommen, um die wunderbaren alten Tannen zu fällen. Nur Stümpfe würden bleiben, die sein Schwiegersohn Wolf mit der Fräse zerkleinern würde. Und ehe man sich versah, standen hier Doppelhaushälften. Hoffentlich war er dann schon tot.
    Er musste Gesa sagen, dass er das Grundstück verkaufen würde. Er sah ihr entsetztes Gesicht vor sich. Sie würde ihm nicht glauben.
    Konrads Lider brannten, als enthielte das Wasser in seinen Augen Reizstoffe. Allergisch gegen die eigenen Tränen. Er rieb, bis das Brennen aufhörte.
    Lichter blinkten am Himmel, ein nächtliches Flugzeug schwebte auf Düsseldorf zu. Mit dem anschwellenden Geräusch der Triebwerke wuchs in Konrad ein Gedanke, eine unerhörte Idee: Wenn er noch einmal hinfliegen würde, nach Georgien? Seit dem Krieg ist alles anders, hatte Wolf gesagt. Ein Scheißland.
    Ob Marissa noch dort lebte, in ihrem Dorf? Konrad hatte den Namen vergessen. Er besaß noch die alten Landkarten, sie lagen auf dem Speicher. Ihm war auf einmal heiß vor Aufregung. Er stellte sich vor, wie er Marissas Haus fand. Er würde klopfen, sie würden sich gegenüber stehen. Was war aus ihr geworden? Wie sah sie heute wohl aus? Würde sie ihn erkennen mit seinen eingefallenen Wangen? Würde sie begreifen, dass er starb? Vielleicht . . . konnte sie ihm dann verzeihen.
    Gleich morgen früh würde er in ein Reisebüro gehen. Er musste sich beeilen. Der Arzt hatte sich nicht festlegen wollen. Doch Konrad wusste es auch so.
    Er lief weiter. Mitten in den alten Tannen wollte er stehen. Abschied nehmen. So klein und unbedeutend war ein Mensch neben ihnen.
    Vor ihm erhob sich der Zaun, der die Tannen umschloss. Konrad ging auf das Tor zu und kramte nach dem Schlüssel in seiner Jacke. Wieso stand da ein Wagen? Ein alter, verbeulter Golf. Wieso parkte der hier, am Rand der
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