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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot
Autoren: Tess Gerritsen
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anvertraut worden war.
    »Wo ist Jane?«, fragte er Frost.
    »In der Küche. Das Baby hatte Hunger.«
    Seine Frau saß mit dem Rücken zur Tür. Sie sah ihn nicht hereinkommen. Er blieb hinter ihr stehen und beobachtete, wie sie Regina zärtlich im Arm hielt, sie an ihre Brust legte und dazu unmelodisch vor sich hin summte. Jane hat noch nie den Ton halten können, dachte er mit einem Lächeln. Regina schien sich nicht daran zu stören; ruhig lag sie in den Armen ihrer Mutter, die sie nun schon viel sicherer hielt als zu Anfang. Die Liebe ist das Einzige, was ganz von selbst kommt, dachte Gabriel. Alles andere braucht seine Zeit. Alles andere müssen wir erst lernen.
    Er legte die Hände auf Janes Schultern und beugte sich herab, um ihr Haar zu küssen. Sie blickte zu ihm auf, und ihre Augen leuchteten.
    »Lass uns nach Hause fahren«, sagte sie.

38
    Mila
     
    Die Frau ist gut zu mir gewesen. Jetzt, während das Auto die ungeteerte Straße entlangrumpelt, nimmt sie meine Hand und drückt sie. Ich fühle mich sicher in ihrer Nähe, auch wenn ich weiß, dass sie nicht immer da sein wird, um meine Hand zu halten. Es gibt noch so viele andere Mädchen, an die sie denken muss, andere Mädchen, die noch immer in den dunklen Winkeln dieses Landes verschollen sind. Aber im Moment ist sie hier bei mir. Sie ist meine Beschützerin, und ich lehne mich an sie und hoffe, dass sie den Arm um mich legen wird. Aber sie ist abwesend, blickt nur starr zum Autofenster hinaus in die Wüstenlandschaft. Eines ihrer Haare ist auf meinen Ärmel gefallen, es glitzert wie ein Silberfaden. Ich zupfe es ab und stecke es in meine Tasche. Es wird vielleicht das einzige Andenken an sie sein, das mir bleibt, wenn unsere gemeinsame Zeit zu Ende geht.
    Der Wagen rollt aus und bleibt stehen.
    »Mila«, sagt sie und stößt mich an. »Sind wir auf dem richtigen Weg? Kommt Ihnen die Gegend hier bekannt vor?«
    Ich hebe den Kopf, der auf ihrer Schulter geruht hat, und starre aus dem Fenster. Wir halten neben einem ausgetrockneten Flussbett, wo verkümmerte Bäume mit verkrüppelten Ästen wachsen. Im Hintergrund sind braune, mit Felsbrocken übersäte Hügel zu sehen. »Ich weiß nicht«, sage ich zu ihr.
    »Sieht das aus, als könnte es die Stelle sein?«
    »Ja, aber …« Ich starre weiter aus dem Fenster, zwinge mich, an das zu denken, was ich mit aller Kraft zu vergessen versucht habe.
    Einer der Männer, die vorn sitzen, dreht sich zu uns um.
    »Hier haben sie den Schleichweg gefunden, auf der anderen Seite dieses Flussbetts«, sagt er. »Letzte Woche haben sie eine Gruppe von Mädchen geschnappt, die hier durchkamen. Vielleicht sollte sie mal aussteigen und sich umschauen, ob sie da unten irgendetwas wiedererkennt.«
    »Kommen Sie, Mila.« Die Frau öffnet die Tür und steigt aus, aber ich bleibe reglos sitzen. Sie beugt sich zu mir in den Wagen. »Das ist unsere einzige Chance«, sagt sie leise.
    »Sie müssen uns helfen, die Stelle zu finden.« Sie streckt die Hand aus. Widerstrebend ergreife ich sie.
    Einer der Männer führt uns durch ein Labyrinth von Gestrüpp und Bäumen und dann über einen schmalen Pfad hinunter in das ausgetrocknete Flussbett. Dort bleibt er stehen und sieht mich an. Er und die Frau beobachten mich, warten auf meine Reaktion. Ich blicke zur Uferböschung und starre einen alten Schuh an, der dort in der prallen Sonne liegt, staubig und rissig. Eine Erinnerung steigt wie durch Nebel auf und steht dann schlagartig vor mir, scharf und klar. Ich drehe mich um und blicke zum anderen Ufer, das mit Plastikflaschen übersät ist, und ich sehe einen Fetzen einer blauen Zeltplane an einem Ast hängen.
    Das ist die Stelle, wo er mich geschlagen hat. Hier hat Anja gestanden, mit ihrem blutenden Fuß in dem offenen Schuh.
    Wortlos mache ich kehrt und steige wieder die Uferböschung hinauf. Mein Herz rast, und die Angst drückt mir mit kalten Fingern die Kehle zu, aber jetzt habe ich keine Wahl mehr. Ich sehe ihren Geist, er schwebt direkt vor mir. Eine Haarsträhne, vom Wind zerzaust. Ein trauriger Blick über die Schulter.
    »Mila?«, ruft die Frau.
    Ich gehe immer weiter, kämpfe mich durch die Büsche voran, bis ich die Schotterpiste erreiche. Hier, denke ich. Hier haben die Busse geparkt. Hier haben die Männer auf uns gewartet. Die Erinnerungen rattern jetzt schneller vorüber, wie Visionen aus einem schrecklichen Albtraum. Die lüsternen Blicke der Männer, als wir uns ausziehen. Die Schreie des Mädchens, als es gegen den Bus
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