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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde
Autoren: Kelley Armstrong
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schüttelte den Kopf.
    »Wie hast du Lyle House gefunden?«, erkundigte ich mich.
    Sie blinzelte verwirrt. »Gefunden?«
    »Ich meine, wie hast du das Heim für mich gefunden? In den Gelben Seiten? Oder über eine Empfehlung?«
    »Es hatte den besten Ruf, Chloe. Den
allerbesten
. Jemand in der Klinik hatte es mir empfohlen, aber ich habe trotzdem Nachforschungen angestellt. Ihre Erfolgsquote ist überragend, und ich habe begeisterte Empfehlungen von Patienten und ihren Angehörigen gelesen. Ich glaub einfach nicht, dass das passieren konnte.«
    Ich war also nicht auf gut Glück nach Lyle House geschickt worden. Es war ihr empfohlen worden. Hatte das etwas zu bedeuten? Ich befingerte Liz’ Kapuzenshirt und dachte über uns nach. Uns alle. Kein normales Wohnheim würde Ausreißer mit Betäubungsgewehren verfolgen. Der Geist hatte recht gehabt. Es gab einen Grund dafür, dass wir ausgerechnet in Lyle House untergebracht waren. Und wenn ich die Wahrheit vor Tante Lauren geheim hielt, brachte ich sie möglicherweise in Gefahr.
    »Das mit den Geistern …«, begann ich.
    »Du meinst das, was diese Gill zu dir gesagt hat?« Tante Lauren legte den Pfeil mit einem Knall auf den Zeitschriftenstoß zurück, so dass er ins Wanken geriet und die Hefte auf der Glasplatte auseinanderrutschten. »Die Frau könnte ganz offensichtlich selbst etwas psychologische Betreuung brauchen. Sie ist der Meinung, du kannst mit Geistern reden? Wenn ich das der zuständigen Kammer gegenüber auch nur
erwähne
, ist sie ihre Zulassung los. Sie kann froh sein, wenn sie nicht selbst eingeliefert wird. Kein gesunder Mensch bildet sich ein, dass Leute mit Toten reden können.«
    Okay, das mit dem Geständnis wäre offensichtlich keine gute Idee gewesen.
    Tante Lauren stand auf. »Ich werde als Erstes deinen Vater anrufen, dann meinen Anwalt, und
der
kann dann bei Lyle House anrufen.
    »Dr. Fellows?«
    Tante Lauren wandte sich Rae zu.
    »Bevor Sie das machen, sollten Sie sich vielleicht noch Chloes Arm ansehen.«

46
    T ante Lauren warf einen einzigen Blick auf meine Verletzung und drehte fast durch. Das musste genäht werden, und zwar augenblicklich. Sie hatte die nötigen Materialien nicht im Haus, und ich brauchte qualifizierte ärztliche Betreuung. Wer wusste schon, was da durchtrennt worden war und was an Dreck und Keimen an dieser Glasscherbe gewesen war. Während sie meinen Arm neu verband, musste ich eine Flasche Limonade trinken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Zehn Minuten später saßen Rae und ich auf dem Rücksitz ihres Mercedes, während sie aus der Garage jagte.
    Bevor wir die erste Ampel erreicht hatten, war ich bereits eingeschlafen. Wahrscheinlich hatten die ganzen schlaflosen Nächte etwas damit zu tun. Und in Tante Laurens Auto zu sitzen tat ein Übriges, der vertraute Beerengeruch des Lufterfrischers und die weichen hellbeigen Lederpolster mit dem verblichenen blauen Fleck, wo ich vor drei Jahren mal ein Slush-Puppie verschüttet hatte. Wieder zu Hause. Wieder im normalen Leben.
    Ich wusste genau, dass es so einfach nicht war. Die Dinge waren nicht einfach wieder normal. Und Derek und Simon waren immer noch irgendwo da draußen. Ich machte mir Sorgen um sie. Aber während das Auto weiterrumpelte, schien selbst die Besorgnis in den Hintergrund zu treten, als ließe ich sie in einem anderen Leben zurück. Einem geträumten Leben, teils Alptraum, teils … nicht.
    Die Toten zu beschwören, aus den Fängen eines finsteren Arztes zu entkommen, durch stillgelegte Lagerhäuser zu rennen, während Leute auf mich schossen. In diesem vertrauten Auto kam mir das alles unwirklich vor, hier mit der Musik aus dem Radio und meiner Tante, die über etwas lachte, das Rae im Hinblick auf ihren Musikgeschmack gesagt hatte, und hinzufügte, dass ich auch dauernd daran herummeckerte. So vertraut. So normal. So tröstlich.
    Und doch – noch während ich in den Schlaf hinüberdriftete, klammerte ich mich an die Erinnerungen aus diesem anderen Leben, in dem die Toten zum Leben erwachten, Väter verschwanden, Magier fürchterliche Experimente durchführten und ihre Opfer unter ihrem Haus begruben und Jungen Nebel mit den Fingerspitzen hervorrufen oder sich in Wölfe verwandeln konnten. Jetzt war es vorbei, und es war, als wäre ich aufgewacht und hätte festgestellt, dass ich keine Geister mehr sehen konnte. Ein Gefühl, als ob jetzt etwas fehlte, als hätte ich etwas aufgegeben, das mein Leben schwieriger gemacht, es zugleich aber auch
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