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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel
Autoren: Charlotte Link
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Situation, allein für ein Baby sorgen zu müssen, vollkommen überfordert. Er war Offizier von altem preußischem Schlag, ernst, korrekt und pflichtbewußt, immer ein wenig streng und unnahbar. Im Innern empfand er sowohl Stolz als auch Liebe für seinen kleinen Sohn, aber er sah sich völlig außerstande, dem Kind das zu vermitteln. Er besorgte eine Kinderschwester, bezahlte sie fürstlich, zog sich erleichtert zurück und ließ sie vergleichsweise unbeaufsichtigt tun, was sie tun wollte.
    Natürlich blieb es nicht bei einer; Aufsichtspersonen dieser Art pflegen häufig aus den verschiedensten Gründen zu wechseln, und bis zu seinem achten Lebensjahr hatte Andreas bereits sieben »Fräuleins« um sich gehabt und seinen Vater nur sehr selten gesehen. Er verehrte und bewunderte diesen Mann, der immer eine so schöne Uniform trug und stets würdevoll und ruhig auftrat, und oft weinte er sich abends in den Schlaf, weil er gedacht hatte, sein Vater käme heute und würde ihm gute Nacht sagen, er aber war wieder einmal nicht erschienen.
    Von den Kinderschwestern gab es nur eine, die Andreas wirklich mochte, und die blieb nur ein halbes Jahr, dann heiratete sie und ging fort von Berlin. Alle anderen hatten irgendeinen Fehler. Eine war trocken und humorlos und schüchterte das Kind
immer nur ein, eine andere lachte ständig überdreht und redete so viel, daß man Kopfweh davon bekam. Eine ließ ihn völlig verwahrlosen und wurde schließlich gefeuert, eine klaute wie ein Rabe. Die letzte hatte einen Freund, der immer im Hause Bredow herumlungerte, wenn der Oberstleutnant nicht da war, und der Andreas sagte, er werde ihn »abmurksen«, wenn er das seinem Vater petzte. Andreas beobachtete die beiden einmal, während sie sich auf dem Wohnzimmerteppich liebten; er reagierte mit einem Schock, bekam nächtliche Alpträume und behielt kein Essen mehr bei sich. Nicht einmal dem fast ständig abwesenden Oberstleutnant konnte das verborgen bleiben, und schließlich brachte er aus dem Sohn heraus, was passiert war. Damit war das Ende der Kindermädchen gekommen, und Tante Gudrun trat auf den Plan.
    Bei Tante Gudrun stand jedenfalls nicht zu erwarten, daß sie sich irgendeinem unmoralischen Tun hingeben würde. Sie war des Oberstleutnants ältere Schwester und eine typische alte Jungfer. Sie haßte alle Männer – hauptsächlich deshalb, weil sich nie einer um sie bemüht hatte –, und sie war verbissen darum bemüht, den Makel ihrer Ehelosigkeit durch besonderen Fleiß und unsagbare Tüchtigkeit auszugleichen. Sie zog in das Haus ihres Bruders mit Sack und Pack ein, versäumte es aber von da an keinen einzigen Tag, alle Welt darauf hinzuweisen, welch ungeheures Werk der Nächstenliebe sie damit tat. Der Satz, den Klein—Andreas von nun an am häufigsten zu hören bekam, lautete: »Du weißt überhaupt nicht, wie dankbar du mir sein kannst!«
    Als der Krieg begann und der Oberstleutnant an die Front mußte, wurde Andreas’ Einsamkeit noch größer. Sein Leben war zwar ausgefüllt mit Schule und Jungvolk und Christine, aber es gab keinen erwachsenen Menschen mehr, dem er Vertrauen und Liebe entgegenbringen, an dem er sich orientieren konnte. Alles, woran er festhielt, war der Gedanke: Bald ist der Krieg vorbei und Vater kommt zurück!
    Nun war Vater tot. Für sein ganzes Leben würde ihm die Szene dieses Abends gegenwärtig bleiben. Der blaßblaue Abendhimmel
jenseits des Fensters, ein paar rot angestrahlte Wolken, drinnen der Geruch nach Eintopf und Schweiß. Tante Gudrun verausgabte sich immer vollkommen bei der Arbeit. Andreas sah nur ihren breiten Rücken, die dicken, roten Arme, die sich beinahe wütend bewegten. Ohne ihn anzusehen sagte sie: »Die Frage ist, was nun aus dir werden soll!«
    Nie würde er das Gefühl völliger Hilflosigkeit vergessen, das ihn in diesem Augenblick befiel.
    Eine Woche später erschien ein junger Soldat im Hause Bredow. Er hatte die letzten Minuten des Oberstleutnants miterlebt und berichtete, die Gedanken des Sterbenden hätten dem Sohn gegolten.
    »Er war besorgt um dich. Er sagte mir, ich solle dich von ihm grüßen und dir sagen, daß er dich sehr liebt. Und er gab mir das hier für dich.« Der Soldat griff in seine Jackentasche und zog etwas hervor. Es war der goldene Ring, den der Vater immer getragen hatte und der in der Familie Bredow schon seit Generationen vom Vater an den jeweils ältesten Sohn weitergegeben wurde. »Der ist jetzt für dich, hat er gesagt. Und du sollst ihn nie
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