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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel
Autoren: Charlotte Link
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stören lassen.
    Der Teppich verschluckte seine Schritte, als er zum Schreibtisch ging; außerdem spielte noch immer der Plattenspieler. Ein Handgriff, und er hatte das Telefon fort vom Schreibtisch auf den Aktenwagen in der Ecke gestellt. Nicht ausgeschlossen, daß Andreas es dort fand, aber zumindest würde er eine ganze Weile suchen müssen.
    »David, geh nicht fort! Laß uns reden! Laß uns...«
    David verließ das Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Draußen atmete er tief durch. Manchmal wünschte er den alten
Mann zum Teufel. Warum nur glaubten Menschen jenseits der Fünfzig immer, sie könnten sich ungefragt in alles einmischen, was sie nichts anging?
    Er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen: Durch einen ruhigen Morgen voller Kälte und Schnee war er nach Hause gefahren. Er hatte den Wagen selber gesteuert, sich in das Polster zurückgelehnt. Er würde sich bei Andreas entschuldigen, weil er so unbeherrscht reagiert hatte, und dann konnten sie vielleicht in aller Ruhe über das Problem »Laura« reden. Womöglich gab Andreas seine Vorurteile auf – Vorurteile, dachte David heute oft bitter. Mehr und mehr gelangte er inzwischen zu der Ansicht, daß Andreas recht gehabt hatte. Aber damals war er überzeugt gewesen, daß Laura ihn liebte. Es gefiel ihm, wie sie lachte, redete, gestikulierte, wie sie mit geradezu leidenschaftlichem Gesichtsausdruck Champagner trank, wie sie durch ein Zimmer ging oder sich zum Fenster hinauslehnte und Schneeflocken auf ihrem Gesicht zerschmelzen ließ. Er mochte es auch, wenn der Ausdruck ihrer Augen plötzlich von Fröhlichkeit in Melancholie wechselte und eine wehmütige Nachdenklichkeit auf ihren Zügen erschien. Nie konnte sie das kleine, blasse, hungrige Mädchen aus der Bronx verleugnen, das sie einmal gewesen war, auch dann nicht, wenn sie ein Kostüm von Ungaro oder einen Pelz von Fendi trug. In ihrem Gedächtnis existierten Kälte und Armut, Angst und hundertfach erlittene Gewalt. Manchmal schmiegte sie sich an ihn, dann kam es ihm vor, als sei sie ein kleines Tier, das sich im Fell seiner Mutter verkriecht. Den Kopf an seiner Brust vergraben, flüsterte sie: »Ich will nie wieder arm sein, David. Nie wieder. Ich habe solche Angst, daß ich eines Morgens aufwache, und ich bin wieder in dem verfallenen Haus in der Bronx, mein besoffener Vater schnarcht nebenan, und Mutter ist nicht heimgekommen, ich laufe wieder durch die Straßen und suche nach ihr ...«
    »Keine Angst, Laura. Ich beschütze dich. Du gehörst zu mir.«
    »Ich weiß, David. Aber manchmal habe ich so schreckliche Träume, und ich habe Angst, wenn es dunkel wird oder wenn viele Menschen um mich sind ...«

    »Du sollst dich nicht fürchten, solange ich bei dir bin, Laura.« Er hielt sie gern in den Armen und tröstete sie, und er hatte es auch in der Silvesternacht getan, als plötzlich gegen Morgen ihre Zukunftsangst wieder wie eine hohe, schwarze Mauer vor ihr aufgestiegen war. Er liebte die Rolle des Beschützers, weil sie ihm Macht verlieh, aber er hatte wenig psychologisches Einfühlungsvermögen und merkte nicht, daß er zwiespältige Gefühle in Laura auslöste: Sie hing an ihm, weil er der erste Mann war, der ihr Geborgenheit gab, und sie haßte ihn zugleich, weil er die einzige dünne Wand darstellte, die sie von ihrem früheren Leben trennte, und weil er sie deshalb vollkommen in der Hand hatte. Daß er sie aufgewühlt und elend zurückgelassen hatte, war ihm nicht im mindesten bewußt, als er durch den verschneiten Neujahrsmorgen zu seiner und Andreas’ Wohnung zurückfuhr. Er glaubte Laura in derselben guten Stimmung, in der er sich selber befand. Später würde sie einmal über ihn sagen: »Er war auf geradezu sensationelle Weise unsensibel.«
    Er begriff sofort, daß Andreas tot war, als er ihn vor dem Schreibtisch liegen sah, und er begriff auch schon in der nächsten Sekunde, wie der Gang der Handlung gewesen sein mußte. Das Telefon! Andreas hatte in seinen letzten Minuten versucht, das Telefon zu erreichen.
    David wußte nicht, wie lange er in dem Zimmer gestanden und jeden Gegenstand, jedes Möbelstück in sich aufgenommen hatte. Jede Einzelheit brannte sich für immer in sein Gedächtnis: Der Tisch mit dem kalten Buffet vom Abend, Erbrochenes auf dem Teppich, angeklebte Speisereste auf den Tellern, wenig appetitlich anzusehen im fahlen Wintermorgenlicht, halbvolle Weingläser. Auf dem Plattenspieler lag bewegungslos die Platte, die sie gehört hatten, kalter Zigarettenrauch
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