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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel
Autoren: Charlotte Link
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mich?«

    »Natürlich mag ich dich ...«
    Andreas nickte langsam. Er blickte nachdenklich in den Flammenschein der Kerzen auf dem Baum. »Weißt du, David, ich bin immer sehr allein gewesen. Schon als Kind. Deine Mutter war der einzige Mensch, der für mich da war. Sonst hatte ich niemanden. Mit dreizehn war ich Vollwaise, aber davor gab es auch niemanden, der sich wirklich um mich gekümmert hätte. Ich habe mich stets danach gesehnt, einmal einen Menschen ganz für mich zu haben. Jemanden, der mich liebt, der mich braucht, der mir vertraut. Jemanden, dem ich etwas bedeute ...«
    O Gott, dachte David mit leiser Panik.
    Andreas schaute ihn an. »Du weißt, du bist für mich wie ein Sohn, David. Ich werde dir alles geben, was ich habe. Ich freue mich so auf die Zeit, wenn du für immer hier lebst.«
    »In New York, meinst du?«
    »Hier bei mir. Sieh mal, dieses Penthouse ist für mich allein viel zu groß. Warum ziehst du nicht hier ein? Wir wären dann beide nicht mehr länger allein. Ich meine, ich werde dich bestimmt nicht stören. Du bist dann erwachsen, und natürlich willst du dann auch manchmal für dich sein. Aber wir könnten abends zusammensitzen und miteinander sprechen, wir könnten zusammen frühstücken oder uns in die Sonne setzen. Es würde Spaß machen, über alles zu reden, was uns bewegt und beschäftigt. Es gäbe immer jemanden, der zuhört.« Andreas hatte leidenschaftlich gesprochen, und David sah, daß Tränen in seinen Augen blinkten. Überrascht erkannte er, wie einsam der reiche Mann aus New York war. Die Traurigkeit und Sehnsucht im Gesicht des anderen lähmten ihn.
    Verdammt, dachte er, hier mit ihm wohnen!
    Er hatte fest damit gerechnet, eine eigene Wohnung in New York zu bekommen. Es müßte auch keine furchtbar feine oder komfortable sein, einfach ein Ort, an den er sich zurückziehen und wo er für sich sein konnte. Die Vorstellung, mit Andreas zu leben, der so entsetzlich gütig, so entsetzlich fürsorglich, so entsetzlich erdrückend war, erschreckte ihn. Aber wie schon früher bei seiner Mutter vermochte er sich nicht zu wehren. In Mums
Gegenwart hätte er manchmal schreien mögen, so unerträglich von ihr vereinnahmt hatte er sich oft gefühlt. Als Kind hatte er bei ihr im Bett schlafen müssen, und sie hatte ständig darüber gejammert, daß sie niemanden habe außer ihn, seit sein Vater gestorben sei. Er erinnerte sich gut an das schlechte Gewissen, mit dem er sich gewünscht hatte, er bräuchte nicht immer für Mum dazusein. Wie oft hätte er sonntags mit den anderen Kindern spielen mögen und war statt dessen daheim geblieben, weil er das traurige Gesicht seiner Mutter nicht ertrug.
    »Ich werde dann eben allein meinen Kaffee trinken«, sagte sie in solchen Situationen. »Ich hatte mich so auf den Nachmittag mit dir gefreut, David. Aber natürlich, wenn es dir mehr Spaß macht, mit den anderen Kindern zusammenzusein, als mit deiner langweiligen Mutter ...«
    »Ich bin viel lieber bei dir, Mum«, sagte er dann, teils wütend, teils resigniert, und schließlich beschämt, weil er sie offenbar nicht genug liebte, um wirklich gern mit ihr zusammenzusein. »Ich bleibe hier!«
    Jetzt sah ihn Andreas mit demselben Ausdruck in den Augen an, den Mum immer gehabt hatte, und wieder überkam David das Gefühl von Wehrlosigkeit und hilflosem Ärger. Wenn er jetzt »nein« sagte, wenn er jetzt erklärte, daß er lieber allein sein würde, das wäre ungefähr so, wie wenn man ein unschuldiges Kind schlägt, das es nur gut gemeint hat. Andreas meinte alles nur gut. Er war die verkörperte Güte selbst, und es war die wohlvertraute Scham, die David empfand, weil er jetzt am liebsten hätte schreien mögen.
    »Das ist eine gute Idee, Andreas«, sagte er höflich. »Natürlich wohne ich gern bei dir.«
    Bei sich dachte er: Verfluchte Scheiße!
    Heute, nachdem Andreas tot war, war er froh, daß er nie die Beherrschung verloren hatte. Es hätte den alten Mann bekümmert und verstört, und er hätte es nicht verstanden.
    Gedankenverloren drehte David nun an dem breiten, goldenen Ring der Bredows, den Andreas ihm immer versprochen hatte und den er dem Toten damals am Neujahrsmorgen vom
Finger gezogen hatte. Erleichtert ging es ihm durch den Kopf: Wenigstens war ich nicht undankbar. Ich habe ihm nicht weh getan!
    Er zog die Schreibtischschublade noch einmal auf und entnahm ihr ein mit einem Gummiband zusammengeschnürtes Bündel Briefe. Sie trugen keinen Absender, waren mit Maschine geschrieben und
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