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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel
Autoren: Charlotte Link
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enthielten wüste Beschimpfungen und Drohungen. Morddrohungen.
    »Fühl dich nicht zu sicher, du Schwein. Dein Mörder ist schon ganz nah!« »Du wirst für deine Sünden bezahlen, David Bellino, und der Tag der Rache rückt immer näher.«
    David Bellino war zeitlebens ein hochgradiger Hypochonder gewesen. Mußte er niesen, schluckte er sogleich ein schweres Medikament gegen Grippe. Bekam er mehrmals hintereinander Schluckauf, wurde er von der Vorstellung besessen, er habe Speiseröhrenkrebs, und suchte einen Spezialisten auf. Wenn er in der Zeitung auf die Schilderung einer Krankheit stieß, spürte er wenige Minuten später sämtliche Symptome. Der Gedanke an Schmerzen und Siechtum bereitete ihm tiefes Grauen, das Bewußtsein seiner eigenen Sterblichkeit machte ihm schwer zu schaffen. Im wesentlichen beschäftigte er sich damit, einem frühen Tod vorzubeugen.
    Mancher hätte die Briefe, die seit einem Vierteljahr in zweiwöchentlichen Abständen eintrafen, als Unsinn abgetan. Ein Mann in Davids Position hatte selbstverständlich immer Feinde, aber keineswegs waren die ständig drauf und dran, tatsächlich zur Waffe zu greifen und das Objekt ihrer Aggression vom Leben zum Tod zu befördern. David hatte die Briefe von einem Psychologen analysieren lassen, und der hatte gemeint, der Schreiber finde eine tiefe Befriedigung im Verfassen solcher Schriften, sei aber keineswegs entschlossen, die Drohungen in die Tat umzusetzen. »Der Schreiber ist intelligent und sensibel. Ich würde ihn nicht als gewalttätig einschätzen.«
    David empfand diese Aussage zwar als beruhigend, beschloß aber, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen. Er war dabei gewesen, als man auf Andreas geschossen hatte, eine Szene, die sich
tief in sein Gedächtnis eingegraben hatte, und jedesmal, wenn er ein Gebäude verließ und auf die Straße trat, erwartete er halb und halb, daß ihm dasselbe widerfuhr. Die Angst wurde zu seinem schlimmsten Feind, sie tyrannisierte ihn, wo er ging und stand. Die Briefe machten ihn fertig, ob sie nun ernst gemeint waren oder nicht. Er mußte herausfinden, wer sie schrieb, er mußte das abstellen, er würde sonst noch verrückt werden.
    Natürlich kamen eine Menge Leute in Frage. Geschäftspartner, denen er zuletzt zugesetzt hatte, Angestellte, die entlassen worden waren, politische Gruppierungen, Umweltschützer, die mit irgend etwas, was Bredow Industries tat, nicht einverstanden waren. Er mußte das nach und nach abchecken. Und er würde jetzt damit beginnen. Er nahm einen Bogen Papier und schrieb in ordentlichen Druckbuchstaben vier Namen darauf:
    Mary Gordon
Steven Marlowe
Natalie Quint
Gina Artany
    Vier Namen, vier Menschen, vier Schicksale. Vier alte Freunde von ihm. Er wußte nicht mehr, wie oft er die Namen notiert, wie oft er an die Personen dahinter gedacht hatte. Aber je öfter er nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihm, daß es einer von ihnen war, der ihn rachsüchtig zu zerrütten suchte.
    Jeder hatte ein Motiv. Jeder konnte es sein.
    Er hatte seine Freunde zu sich eingeladen, und zu seiner Überraschung hatten alle zugesagt. Vom 27. 12. 1989 bis zum 1.1.1990 sollten sie seine Gäste sein, und das, nachdem sie einander seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Nachdem sie ihn jahrelang nicht hatten sehen wollen.
    David stand auf und trat dicht ans Fenster. Noch kein Licht kündigte den Morgen an. November... dieser düstere, graue, kalte Monat. Nebel überall, und hinter dem Nebel unbekannte Gefahren.
    »Nebel. Nebel, Nebel, die ganze verdammte Zeit. Man sieht nicht, wohin man geht, nichts«, hieß es in O’Neills »Anna Christie«. Das genau waren David Bellinos Empfindungen.

     
    David Bellino war keineswegs ein glücklicher Mensch, und daher ging er regelmäßig zum Psychotherapeuten, genauer gesagt: Er ging zu sehr vielen Therapeuten, denn seine Geduld war nicht groß, und wenn ihm nicht sofort geholfen wurde, beschloß er, jemand anderen aufzusuchen.
    »Es ist eine langwierige, mühevolle Aufgabe, in die Psyche eines Menschen einzutauchen«, hatte ihm einer seiner Ärzte einmal erklärt. »Dinge, die Sie als Kind erlebt und vollkommen verdrängt haben, müssen erforscht und ganz vorsichtig aufgedeckt werden. Wer hier ungeduldig ist, schadet mehr als daß er nützt!«
    »Meine Kindheit war in Ordnung, Doktor!«
    Der Arzt hatte nachsichtig gelächelt. »Wenn Sie das so felsenfest glauben, ist es der beste Beweis dafür, daß da etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.«
    David wechselte den
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