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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel
Autoren: Charlotte Link
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vergessen.«
    Nie. Nie würde er ihn vergessen.
    Kurz darauf begann Tante Gudrun immer öfter zu jammern, sie sei zu alt und zu müde, um ein Kind allein aufzuziehen, außerdem habe sie viel geleistet in ihrem Leben, und es sei ihr Recht, jetzt endlich auch einmal an sich zu denken.
    »Wenn ich nur wüßte, was man mit dir macht!« sagte sie immer wieder zu Andreas, der keine Ahnung hatte, was er darauf erwidern sollte.
    Glücklicherweise gab es da noch einen Verwandten, einen Cousin von Tante Gudrun und dem Oberstleutnant. Rudolf Bredow war als ganz junger Mann nach Amerika ausgewandert und hatte es dort innerhalb kurzer Zeit zu einem Vermögen gebracht; er war clever und risikofreudig und verwaltete inzwischen ein Imperium, Bredow Industries, wozu eine Hotelkette, Restaurants, Ölfelder in Texas und eine private Fluggesellschaft gehörten. Andreas hatte den legendären Onkel Rudolf nie gesehen,
wußte aber, daß er als schwarzes Schaf galt, denn soviel Geschäftemacherei war in der Familie als ordinär verpönt. Das hinderte Tante Gudrun aber natürlich nicht daran, Kontakt mit ihrem Cousin aufzunehmen und ihm brieflich so lange zuzusetzen, bis er sich bereit erklärte, die Vollwaise bei sich aufzunehmen. Er hatte keine eigenen Kinder, seine Frau Judith wünschte sich jedoch lange schon eines, und so schien das eine vernünftige Lösung. Tante Gudrun war ganz aufgeregt. »Du ziehst das große Los, Andreas, das ist dir hoffentlich klar! Am Ende erbst du einmal alles. Vielleicht denkst du dann mal an deine Tante Gudrun! Du hast ja keine Ahnung, wie dankbar du mir sein kannst!«
    Benommen erlebte Andreas die sich überschlagenden Ereignisse. Ehe er es sich versah, war eine Schiffspassage für ihn gebucht, standen seine Koffer gepackt im Hausflur. Er war außer sich vor Kummer, weil er Christine verlassen mußte, um die er sich Sorgen machte und die er am liebsten mitgenommen hätte, anstatt sie im Hitler—Deutschland zurückzulassen. Die Gestapo war noch einmal erschienen und hatte sie und ihre Mutter verhört. Es kam Andreas fast wie ein Verrat vor, sich über den Atlantik hinweg abzusetzen.
    Rudolf und Judith Bredow nahmen ihn mit offenen Armen auf, und besonders Judith liebte ihn von der ersten Sekunde an mit aller Zärtlichkeit. Tragischerweise kam diese Liebe zu spät, um Andreas aus seiner Einsamkeit und Verstörtheit zu befreien, um gutzumachen, was er als Kind an Verlassenheitsgefühlen und Kälte hatte durchstehen müssen. Immer häufiger befielen ihn schwermütige Stimmungen. Er bemühte sich, sein Traurigsein nicht zu zeigen, weil er wußte, daß Judith darunter litt, aber es war ihm an den Augen abzulesen. Manchmal dachte er, es wäre vielleicht besser, wenn er Christine bei sich hätte, und dann dachte er an die Nachmittage, die sie miteinander verbracht, an die Geheimnisse, die sie geteilt hatten, und Sehnsucht und Kummer überwältigten ihn. Überdies hörte man immer Schlimmeres aus Deutschland, je mehr die Zeit voranschritt, die Städte wurden bombardiert, Tausende starben bei Luftangriffen. Beklommen
fragte er sich immer wieder, ob Christine und ihre Mutter immer noch in Berlin säßen oder ob sie sich auf dem Land in Sicherheit gebracht hätten.
    New York bedeutete für Andreas den Eintritt in eine neue Welt, ein Leben hoch über dem Central Park, Ferientage auf Martha’s Vineyard oder auf der texanischen Ranch, es bedeutete Private School und später ein wirtschaftswissenschaftliches und juristisches Studium in Harvard, feine Restaurants und Bälle, Chauffeur, eigenes Bad und Tennisstunden. An seinen Geburtstagen durfte er seine Schulfreunde einladen, und für alle gab es Eis und Glückslose, und Judith selbst unterhielt die ganze Gesellschaft mit Spielen. Alles, was sie an Gefühlen zu geben hatte, schenkte sie dem fremden Kind. Andreas dankte es ihr mit Anhänglichkeit und Treue, und das einzige, was er ihr nicht geben konnte, und was sie sich so sehr gewünscht hätte, war die natürliche, unbeschwerte Fröhlichkeit eines heranwachsenden Jungen.
    »Du bist zu ernst für dein Alter«, sagte sie oft. »Was macht dich so traurig?«
    Er lächelte nur, aber er hätte ihr antworten können: Meine Traurigkeit wird mich begleiten, solange ich lebe.
    An seinem achtzehnten Geburtstag – es war im Mai 1945, und Deutschland hatte gerade kapituliert – ließ Rudolf seinen Stiefsohn in sein Arbeitszimmer kommen und reichte ihm einen dicken Briefumschlag. »Für dich, Andreas«, sagte er, »eine Kopie
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