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Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Schattenlord 6 - Der gläserne Turm

Titel: Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
Autoren: Claudia Kern
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auch waren, keines hätte es gewagt, seine Herrin anzugreifen. Also konzentrierte sie sich, griff mit magischen Händen nach den Tönen und begann, sie zu streicheln. Um jeden einzelnen wob sie ein Netz aus Ruhe und Zufriedenheit, lullte sie damit ein.
    Es war eine anstrengende, schwere Arbeit. Schweiß lief in Bahnen über ihre Haut, ihr Herz raste, und zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie Hunger.
    So fühlt sich das also an, dachte sie, während sie weiter beruhigend auf die Töne einwirkte, die leiser und leiser wurden. Ke-Amarihye strich mit ihren Geistfingern über die Töne, brachte sie neu zum Erklingen, verwob sie wieder zu einer Melodie, bis auch die letzte Dissonanz verstummte. Dann öffnete sie die Augen und lauschte.
    Sie hörte keine wütenden Schreie mehr, nichts wurde zerschlagen, niemand brüllte Beleidigungen. Die Melodie klang anders als zuvor, nicht mehr so kräftig, und ihr fehlte etwas, das Ke-Amarihye kaum in Worte zu fassen vermochte. Eine gewisse Leichtigkeit, eine Seele.
    Meroyan tauchte in der offen stehenden Tür des Thronsaals auf. Sein Gewand war zerrissen, ein Auge gerötet und fast zugeschwollen. »Sie haben den Dolch gestohlen« sagte er.
    Also das ist der Grund.
    »Wer?«, fragte sie.
    »Die Haarigen. Ich habe sie die Treppe zum Mundstück hinauflaufen sehen, kurz bevor die Melodie umschlug. Sie müssen es gewesen sein, eine andere Erklärung gibt es nicht.«
    Oh Nidi, dachte Ke-Amarihye, wieso musst du mich so enttäuschen?
    »Soll ich Suchtrupps zusammenstellen?«, fragte Meroyan. Ein schriller, durchdringender Warnton ließ ihn und Ke-Amarihye zusammenzucken.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    Ihr Berater drehte sich bereits um. Schritte hallten ihm durch den Gang entgegen.
    »Etwas fliegt auf uns zu!«, schrie eine Männerstimme. »Das müsst Ihr Euch ansehen.«
    Ke-Amarihye klatschte in die Hände. »Dienerinnen!«, rief sie. »Bringt Uns nach draußen!«
    In ihrer Jugend hatte sie sich oft auf dem Podest nach draußen tragen lassen, doch in den letzten Jahren war ihr das zu anstrengend geworden. Nun mühten sich mehr als ein Dutzend Männer und Frauen mit dem schweren Glaskasten ab, schoben ihn keuchend durch die Tür und den Gang hinunter bis nach draußen. Ke-Amarihye hob schützend die Hand vor die Augen, als Sonnenlicht zum ersten Mal seit Jahren auf ihre Haut fiel. Sie genoss die Wärme und die leichte Brise.
    »Da, Euer Hoheit«, sagte ein Mann vor ihr. Auch andere zeigten hinauf zum Himmel. Ke-Amarihye folgte ihren Blicken. Ihr Mund wurde trocken, und die Melodie setzte einen Takt lang aus, als sie das riesige schwarze Schiff im wolkenlosen Blau sah. Noch nie hatte sie von etwas Vergleichbarem gehört, geschweige denn es gesehen, doch sie wusste sofort, dass nichts Gutes von ihm ausgehen konnte. Es kam ihr so vor, als habe sich all das Böse in der Welt, all das Verdorbene, Verrottete zusammengetan, um dieses Schiff zu erschaffen.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag griff Ke-Amarihye nach den Tönen und schlug eine neue Melodie an. Jeder Einwohner ihrer Stadt, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, blieb plötzlich stehen. Ihre Blicke wurden leer, sie öffneten den Mund.
    So tief war der Ton, den sie ausstießen, dass Ke-Amarihye ihn nicht hörte, aber sie fühlte ihn bis tief in ihre Knochen. Adern platzten in den Augen der Umstehenden, Blut lief wie Tränen über ihre Gesichter, doch sie hörten nicht auf.
    Und die Mauer entstand.

    Laura lief über die Rampe aus der Stadt hinaus. Der Seelenfänger hing vor ihr am Himmel, fuhr mit geblähten schwarzen Segeln auf Amarihye zu. Die Geschützluken waren geöffnet, Enterseile flogen über die Reling.
    »Wir müssen irgendwo Schutz suchen!«, schrie Milt hinter ihr über das Getöse der Stadt hinweg.
    Aber wo? Laura stolperte durch tiefen Sand, wandte sich von der Stadt ab und rannte weiter. Die Wüste war weit und offen. Es gab keine Felsen, hinter denen sie sich hätten verstecken können, keinen Baum und keinen Strauch.
    Finn lief an ihr vorbei, zog sie mit sich. »Weiter, nicht langsamer werden!«
    Laura hatte nicht einmal bemerkt, dass ihre Kraft nachließ, doch nun spürte sie die brennenden Muskeln in ihren Beinen und das Stechen in ihren Seiten. Nidi war noch in der Stadt von ihrer Schulter gesprungen, lief nun neben ihr her und sah immer wieder über die Schulter. In seinem Blick flackerte Angst. Nach seiner langen Gefangenschaft an Bord des Seelenfängers kannte er die Schrecken, die dort auf sie alle warteten, nur
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