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Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit

Titel: Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Autoren: Lynn Flewelling
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zurückgekehrt sind. Vielleicht beginnt seine Seele endlich doch zu heilen.
     
    Eine laue Nachtbrise seufzte durch das offene Fenster herein. Das Geräusch schien Seregils innere Einsamkeit wiederzugeben.
    Eigentlich war es geradezu ironisch. Als Alec und er zum ersten Mal in diesem Zimmer geschlafen hatten, war Alec stur auf seiner Seite des Bettes geblieben; in den letzten Wochen wachte Seregil oft auf und stellte fest, daß der Junge dicht neben ihm lag, so wie jetzt. Einen Arm hatte Alec um die Brust seines Freundes geschlungen; an der nackten Schulter spürte Seregil den warmen Atem des Jungen.
    Warum empfinde ich nichts?
    Während Seregil im Mondlicht wachlag, streichelte er Alecs helles Haar und rief sich jenen Kuß in Plenimar ins Gedächtnis.
    Doch selbst diese Erinnerung wirkte fahl und verblaßt.
    Seit Nysanders Tod schienen all seine Gefühle in weite Ferne geflüchtet zu sein und wirkten verschwommen, als trennte sie eine dicke Glasscheibe von ihm.
    Nun war es zu spät, zu spät für alles. Er war zu leer. Seregil legte die Hand auf die des Jungen, beobachtete, wie der Sternenhimmel allmählich in Morgenröte überging und dachte an Gherin.
    In den letzten Wochen hatte sein Verstand weite Wanderungen zurückgelegt und sich immer und immer wieder im Kreis gedreht, während er versuchte, zu einer Entscheidung zu gelangen, die ihm Frieden bescheren würde. Als er heute in das Gesicht von Micums winzigem, neuem Sohn geblickt hatte, spürte er plötzlich, daß endlich das Zeichen gesetzt worden war, auf das er so lange gewartet hatte. Nun, da dieser letzte Verbindungsknoten zur Vergangenheit gelöst war, konnte er gehen.
    Eine Stunde vor Sonnenaufgang schlüpfte er aus dem Bett und zog sich an. Dann schlang er sich den alten Rucksack um eine Schulter, holte ein kleines Bündel aus dem Versteck hinter dem Kleiderschrank und schloß die Fensterläden, um das Licht der Morgensonne auszusperren. Alec durfte erst erwachen, wenn er ein gutes Stück entfernt war.
    Mit der ihm angeborenen Lautlosigkeit schlich er an den im Vorzimmer schlafenden Bediensteten vorbei in Micums Kammer. Im Schein einer noch brennenden Nachttischlampe, betrachtete er seinen Freund, der unendlich friedvoll in den Armen seiner Frau schlummerte. Micum war zu Hause.
    Seregil legte eine Schriftrolle ans Fußende des Bettes, außerdem kleine Bündel mit Juwelen für jedes der Kinder. Auf dem Weg nach draußen hielt er an Gherins Wiege inne.
    Der Säugling lag mit über den Kopf ausgestreckten Armen auf dem Rücken. Behutsam berührte Seregil mit der Fingerspitze eine der winzigen Fäuste und bewunderte die Zartheit der seidigen Haut. Gherin regte sich und nuckelte zufrieden im Schlaf.
    In zwanzig Jahren wirst du dem jungen Mann gleichen, der dein Vater war, als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, erzählte Seregil ihm lautlos und streichelte über das krause, rote Haar des Knaben. Wie würde es sich wohl anfühlen, dich dann zu sehen?
    Seregil verdrängte den Gedanken und stahl sich hastig hinaus. Er würde nicht zurückkehren, nicht in zwanzig Jahren, nie wieder. Das schuldete er ihnen.
    Alec zu verlassen, erwies sich als noch schwerer, als er befürchtet hatte.
    Gegen alle Vernunft ging er zurück zu der offenen Tür des Zimmers, das sie so keusch geteilt hatten, obschon er wußte, daß er verloren wäre, schlüge Alec auch nur ein Auge auf.
    Nun lag der Junge zusammengerollt auf der Seite, das blonde Haar über das Kissen verteilt. Ein dumpfer Schmerz umklammerte Seregils Herz; all die Nächte, die er sich von jenem sanften Atem hatte einlullen lassen, all die Dinge, die sich hätten entwickeln können, schienen sich in Form eines gewaltigen Kloßes in seiner Kehle einzunisten.
    Hätte Nysander doch nur nicht …
    Seregil legte eine dicke Rolle Pergamente auf die Schwelle: den so schmerzvollen, daher kurz gehaltenen Brief; die Dokumente, mit denen Lord Seregil all seine Besitztümer in der Stadt Alec von Ivywell übertrug; die Liste der Namen, Geheimnisse und Geldverwahrer. Alles war sorgfältig verzeichnet. Nach Durchsicht der Liste würde Alec feststellen, daß er auch abzüglich dessen, was Seregil Micum und ein paar anderen geschenkt hatte, einer der wohlhabendsten jungen Männer von Skala sein würde.
    Leb wohl, talí.
    Die Sterne verblaßten allmählich, während er Cynril zur Straße unterhalb von Watermead hinabführte. Als er der Meinung war, er befände sich weit genug entfernt um loszureiten, ohne das ganze Haus aufzuwecken,
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