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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Autoren: Antje Wagner
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den Kühlschrank.“
    Ich füllte das kochende Wasser in zwei Tassen und verrührte das Pulver. Goss je einen Schluck Rum auf, während Polly sich zu mir setzte und ihre Tasse heranzog.
    Meine Hände lagen auf dem weißen Plastiktisch, der sich kalt und sauber anfühlte. In die Oberfläche war ein regelmäßiges Muster aus Kreisen geprägt. Ich ließ den Blick schweifen. Ein langer Spalt zog sich durch die Wand, den ich mit Mull zugestopft hatte. Zumindest kostete uns das Ganze keinen Cent.
    Immer ging es um Geld. Jeder Cent Trinkgeld, den Rosa übersehen hatte, weil er unter dem Kopfkissen versteckt lag, war ein Zentimeter fort von hier.
    Ja, auch ich wollte weg. Ich wollte es genauso sehr wie Polly. Aber in einer anderen Stadt wäre es wieder dasselbe, und das höhlte mich aus. Als wir vor anderthalb Jahren aufgebrochen waren, hatte ich geglaubt, zu irgendeiner späteren Stunde, in irgendeiner ferneren Stadt zu unserem vertrauten Leben zurückkehren zu können. Unser Leben mit einer richtigen Wohnung für Polly und mich. Ich hatte geglaubt, dass wir nur geduldig sein mussten, dass die Misere, in der wir lebten, ein Übergang zu unserem echten Leben war, den wir durchstehen müssten. Und an dieses Bild hatte ich mich geklammert. Aber die Städte wechseln, die Zeit vergeht, das Leben versickert wie Wasser im Ausguss, und plötzlich wird einem klar, dass man einem Phantom nachläuft. Dass das altes Leben nirgends auf einen wartet. Dass es einfach nicht mehr da ist.
    Der Übergang war unser Leben. Wechselnde Wohnungen, die ich in Dunkelheit tunkte, um von außen nicht aufzufallen, ein ewiges Flüstern und Verstummen, wechselnde Rosas. Es gab keine Ruhe mehr; es gab nicht einmal eine Atempause. Unser Leben hieß: möglichst schnell einen Job finden, sobald wir in einer anderen Stadt waren. Möglichst viel Geld zur Seite legen. Sich überlegen, wie das Minimum an Dingen aussieht, das man zum Überleben braucht. Es hieß: mit allen Mitteln vermeiden, jemanden kennenzulernen. Sobald sich jemand für uns zu interessieren begann, sich womöglich verliebte, zogen wir weiter. Und Vincent zog mit.
    Man kann nicht lange so leben, und anderthalb Jahre sind lange. Man beginnt irgendwann, sich zu oft auf der Straße umzudrehen, man gibt jedem zufälligen Blick eine Bedeutung. Wenn jemand eine Weile hinter einem läuft, ist das ein schlechtes Zeichen. Wenn keiner eine Weile hinter einem läuft, weil die Menschen ständig wechseln, ist das um so verdächtiger, weil er vielleicht nur die Klamotten verändert hat, die Haarfarbe, das Gesicht. Es spielt keine Rolle, ob man allein auf der Straße ist oder nicht, man fängt zwangsläufig an, sich verfolgt zu fühlen. Und wenn man alle Kräfte dafür verbraucht, Menschen nicht auf sich aufmerksam zu machen, durch ihre Wahrnehmung hindurchzugleiten wie Luft durch ein Gazefenster, beginnt man eines Tages, an der eigenen Existenz zu zweifeln. Eine merkwürdige Angst hatte mich seit Längerem im Griff: dass die Unsichtbarkeit, die Polly und ich uns tagtäglich umlegten, uns irgendwann infizieren könnte. Dass wir einfach verschwinden würden. Diese Vorstellung saß in meinem Kopf, und im Hotel sah ich in jeden Spiegel, um mich zu vergewissern, dass ich noch da war.
    Ich hob den Blick. Die Wände standen so eng, sie drückten mir die Luft ab. War jemand mir gefolgt? In unsere Gasse? In diesen blinden, ausgetrunkenen Fleck auf der Stadtkarte? Stand jemand im Hausflur? Jemand, der schon die Fäuste ballte, bis die Knöchel weiß heraustraten?
    Ich presste die Hände auf die Schläfen.
    Ich musste aufpassen.
    Wie lange war es her, dass ich durchgeschlafen hatte? Selbst der Schlaf war brutal geworden. Ich schlief nicht mehr ein – ich brach zusammen. Dann war ich weg. Blind und ausgeschaltet. Bis ich träumte, dass es Morgen wurde. Dass Sonne durch die Fenster kam. Dass ich die Augen öffnete und nicht hier, sondern im Jungbusch war. Dass ich Geräusche aus der Nachbarswohnung hörte. Den Radiowecker, der quäkend ansprang, dann den Wasserhahn. Und da wusste ich, dass alles nie passiert war: die Flucht, die Rosas überall und das, was in der Nachbarwohnung im Jungbusch passiert war. Und in eine ungeheure Erleichterung sinkend, wachte ich auf. Öffnete die Augen und war hier. Im Mietshaus. Es gab keine Sonne. Es war immer noch Nacht.
    - - -
    Die Unterstadt war die hässliche Schwester der Oberstadt, hinter den Fluss verstoßen, voll gestopft mit Fabriken und Wohnsilos, Kneipen, Videotheken und
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