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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Autoren: Antje Wagner
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Waschsalons. Sie hatte Gegenden, die grell und laut waren. Gegenden, in denen Tag und Nacht Musik lief, wo ständig Alarmanlagen brüllten und die Nächte erst mittags endeten. Wo Geschrei aus den Fenstern quoll und wo immer irgendwo eine Schlägerei stattfand. Und es gab schwarze Löcher. Wo alle Bewegung erstorben war. Die Rolandsgasse gehörte dazu.
    Sie war aufgegeben worden. Die Stadt hatte kein Geld, die Häuser abzureißen, und jetzt zogen sich der Schimmel und die Ratten hierhin zurück.
    Und Leute wie wir. Ich fragte mich, ob es noch mehr heimliche Bewohner gab.
    Die Stadtreinigung tat nichts mehr hier. Der Müll trieb langsam durch die Rolandsgasse. Plakate schuppten von den Wänden. Die Reste lagen auf dem Boden und warben für Schaumpartys und Karaokenächte, die Jahre zurücklagen.
    Kam ein Sturm auf, rannten Polly und ich auf die Straße und beobachteten, wie der Müll sich hochschwang und wegflatterte, über die Giebel und Schornsteine hinweg, bis in die bewohnten Straßen hinüber. Vincent war zu schwach, um mitzukommen. Der Sturm verband alles, und wir klammerten uns aneinander und lachten aus Leibeskräften und stellten uns vor, wie es auch unser Lachen hinüberriss.
    Nachts zogen hin und wieder Horden randalierender Jugendlicher durch. Sie zerschlugen die Fenster, die noch übrig waren. Doch da niemand sie davon abhielt, da nicht einmal ein Licht irgendwo an- oder ausging, langweilten sie sich schnell und liefen weiter.
    Seit wir so lebten, seit anderthalb Jahren, wollte ich, dass es aufhörte. Die Jobs wurden von Stadt zu Stadt schlechter, weil ich es nicht mehr wagte, aufzumucken. Ich hielt den Mund, ich beschwerte mich nie. Jeden Tag ging ich pünktlich ins Hotel, ich trug unauffällige Kleidung und schminkte mich nicht, um den Blick nicht unnötig auf mich zu lenken.
    Ich trank einen Schluck Kaffee und spürte den Rum. Auch Polly trank, Vincent gab einen leisen Laut von sich, und plötzlich musste ich weinen.
    „He …“, sagte Polly und legte die Hand auf meine. „Es wird alles gut.“
    Vielleicht hat sie recht, dachte ich. Vielleicht hat sie recht, und wir sollten zurückfahren. Zurück nach Schweden. In das vom Knöterich verschlungene Haus. Vielleicht war das tatsächlich die Lösung. Wir mussten ja nicht in den Anbau gehen.
    „Komm“, sagte ich und stellte die Tasse mit einem Ruck auf dem Tisch ab. „Wir gehen jetzt anrufen.“
    - - -
    Die Telefonzelle stand ein paar Häuser weiter. Stets erwartete ich, dass sie verschwunden wäre, über Nacht abgebaut und weggebracht. Wer sollte hier auch telefonieren? Niemand war zu sehen. Bis auf den Asia-Imbiss in der Ferne. Der Wagen stand an dem einzigen Fleck, wo noch Menschen waren. Wo eine lebendige Straße diese erloschene Gegend berührte. Jeden Tag stand er dort, am Ende der Gasse, und bot heldenhaft seine Reispfannen an.
    Die Wände der Telefonzelle waren von innen mit alten Anzeigen beklebt. Ich zog meinen Ärmel über die Hand, um den Hörer nicht mit nackter Haut zu berühren. Dann tippte ich die Nummer.
    Es klackerte an meinem Ohr, als tippte ein Männchen im Innern des Telefons die Zahlen noch einmal ein, dann rauschte es, ein langes Rauschen, das sich von dieser Zelle nach Norden, über die Ostsee, aufs schwedische Festland und weiter nach Nästeviken spannte. Während ich auf das Freizeichen wartete, zog mein Blick über die prallen Busen und offenen Münder sündiger Studentinnenund verdorbener Hausfrauen, all die Flyer, die in Augenhöhe an der Scheibe hingen. Ich sah hoch zur Zellendecke, die zwar schmutzig, aber der einzig unbeklebte Fleck war, und stellte mir das Haus in Nästeviken vor, die Bäume im Garten, die Kiepe vor der Haustür und unter dem Holz, am Boden der Kiepe: den Schlüssel.
    „ The number you have dialed is not available. Please try again .“
    Ich legte auf und wählte noch einmal. „… not available … try again …“
    Als ich aus der Zelle trat, zählte Polly die alten Kippen auf dem Boden: „Wir fahren zurück … wir fahren nicht zurück …“ Filter verrotten nicht. Alles Mögliche zerfällt und wird wieder zu Erde: alte Lappen, Bananenschalen, sogar Joghurtbecher. Zigarettenfilter nicht. Sie werden auch in einer Million Jahren noch da liegen, dachte ich. Das Einzige, was von uns übrig geblieben sein wird. Ausgeblichen und vollkommen intakt. „… fahren zurück … nicht zurück … wir fahren zurück! Siehst du!“
    „Sobald es mit Rosa gar nicht mehr geht“, sagte ich. „Aber bis dahin
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