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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Autoren: Antje Wagner
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war er im Nebenzimmer und konnte uns gar nicht hören.
    „Es wird nicht besser“, antwortete Polly genauso leise. „Er schläft den ganzen Tag.“
    Dann lief sie an mir vorbei in den Korridor und schnappte sich meine Tasche. Plastikfläschchen fielen auf den Boden, als sie mein Portemonnaie hervorzog. „Hier“, sagte sie und hielt mir einen Zettel hin. „Ruf an.“
    Es war kalt im Zimmer, die Heizung ging nicht, meine Zehen krümmten sich auf dem nackten Boden. Im Februar hatten wir einen Gasheizer benutzt, ich hatte ihn billig auf dem Flohmarkt erstanden, aber irgendwas stimmte nicht damit, denn er verlor Gas, während er brannte, und einmal, als er schon seit Stunden lief, wären wir beinah davor eingeschlafen. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr angemacht, lieber fror ich mir die Füße blau.
    Ich legte den Zettel auf den Tisch und strich ihn glatt. Heftig. Seit Monaten, genau gesagt seit dem dritten August vor einem halben Jahr, an dem ich mich das erste Mal geweigert hatte anzurufen, löcherte Polly mich. Aus irgendeinem Grund war ich wütend.
    „Was soll das bringen, Polly?“
    „Gewissheit!“
    „Wir können nicht dorthin. Das Haus ist garantiert verkauft. Und selbst wenn nicht … ich meine, selbst, wenn alles beim Alten wäre … wir können doch nicht dahin zurückgehen, wo wir … Was, wenn uns jemand erkennt?“
    „Feigling. Wer soll uns denn erkennen? Du willst also hier bleiben und verrotten! Zwei Wochen, hast du am Anfang gesagt! Zwei Wochen! Wie lange sind wir schon hier? Über zwei Monate!“ Polly warf sich wieder auf den riesigen Sessel. Die Leute, die einmal hier gewohnt hatten, hatten das Monster wahrscheinlich zurückgelassen, weil man einen Kran gebraucht hätte, um es von der Stelle zu bewegen. Er war hässlich, hatte die Farbe von alter Mettwurst, aber er war intakt und das Einzige in diesem Loch, was bequem war. „Ich fühle mich wie ein Kellerpilz! Fehlt nur noch, dass ich grün werde und Sporen bekomme! – Und Vincent? Denkst du auch an ihn? In der Wohnung hier stirbt er!“
    Ich hob den Blick und sah Polly an. „Du würdest also zurückgehen und mit einer Leiche im Keller leben?“
    „Im Anbau, nicht im Keller! Und wir müssten nicht in den Anbau gehen.“ Sie sank im Sessel zusammen. „Außerdem hast du das Haus geliebt“, flüsterte sie. „Weißt du das nicht mehr?“
    Mein Herz zog sich zusammen. Schnell und leicht wie eine Möwe zog das Bild des Hauses vorbei: die Mauern von Sternmoos bewachsen, die Dielen, an denen man sich so schnell Splitter einzog, die Sonne, die durch alle Räume wanderte, und wir darin. Vielleicht könnte Vincent dort wieder gesund werden.
    Ich betrachtete Polly. Ihre Haut sah bleich aus, und irgendwas war mit ihren Augen, sie wirkten zu schwarz, als ob sie zu tief lägen, vielleicht war es diese Wohnung. Polly und Vincent hielten sich den ganzen Tag hier auf. Ohne frische Luft. Ich spürte eine jähe, fast schmerzhafte Reue und ging zu ihr hin. Ich hockte mich vor den Sessel und sagte leise: „Okay, ich rufe an. – Aber was, wenn wieder niemand abhebt, wenn wie immer die automatische Stimme kommt?“
    Sie griff nach meiner Hand. „Dann ist das Haus frei. Dann fahren wir zurück.“
    Aber so einfach war es nicht.
    - - -
    In der Küche kramte ich ein paar Tassenportionen Hotel-Kaffee aus meiner Handtasche, machte den kleinen Gaskocher an und stellte den Kessel darauf. Mit Bedauern dachte ich daran, dass Rosa bald meine Tasche zum Feierabend durchsuchen würde. Bei Mariza hatte es auch so angefangen.
    Dabei machten es alle Mädchen. Es war normal, die Tütchen aus den Zimmern mitzunehmen. Die meisten Gäste ignorierten sie, genau wie die Duschpröbchen auf der Badkonsole und das arrangierte Obst auf dem Nussholztischchen, und irgendwer musste die Sachen ja verbrauchen. Polly und mir half es, Geld zu sparen. Alle Mädchen taten es, und die Pförtner, die uns am Ausgang kontrollierten, verloren kein Wort darüber. Offiziell aber war es verboten. Was Rosa sehr wohl wusste. Und was Marizas Pech gewesen war.
    Es war wie ein Gesetz: Eine war immer dran. Und keine half, wenn es passierte, alle Mädchen senkten den Blick. Ich war genauso gewesen. Ich hatte wie alle anderen geschwiegen, als Mariza nicht mehr kam. Danach hatte ich die Hälfte ihrer Zimmer übernommen.
    „Willst du auch Kaffee?“, fragte ich.
    „Ja. Mit Rum“, sagte Polly und kam in die Küche. Sie rieb die Hände aneinander. „Mann, ist das kalt! – Na ja, wenigstens sparen wir uns
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