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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
Autoren: Antje Wagner
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Fuß gegangen. Zu Fuß konnte ich besser kontrollieren, ob mir jemand folgte.
    Das alte Mietshaus hatte etwas Schlossähnliches.
    Als wir bei der ersten Besichtigung das schwere Haustor hinter uns geschlossen hatten und unten in der düsteren Eingangshalle standen, hatte ich den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen aufgerissen.
    „Und?“, hatte Polly gefragt.
    „Na ja, es ist nicht gerade das Starlight “, hatte ich schockiert geantwortet.
    „Ja, krass, oder? Hier könnte man glatt die zweiten Teile von Die Nacht der lebenden Toten oder Castaway drehen.“
    Unsere Stimmen klangen hohl in dem Gebäude. Polly drehte sich um ihre eigene Achse und sah nach oben. „Haaallo“, rief sie, und auch das Echo klang verzerrt. Als würde das Haus seine Schatten um alles Lebendige schlingen, und wäre es nur eine Stimme.
    Über steile Treppen ging es zu den Stockwerken, durch deren feuchte Dunkelheit sich Gänge gruben. Wir hatten mit der Taschenlampe hineingeleuchtet, und die Gänge hatten in dem dünnen Licht geschwankt. Manche Wohnungstüren fehlten, und die schwarzen Öffnungen schienen nach dem Licht zu schnappen. Sie strömten einen dumpfen, undefinierbaren Geruch aus. Ein böser Kindertraum von Schloss. Kein Laut darin. Nichts. Das Haus war von Anfang an so still gewesen, als läge es im Sterben. Doch der Tod hauste nur in den unteren Etagen. Wir wohnten oben.
    - - -
    Ich hatte das Mietshaus erreicht, schaute zu unserem Fenster, das dunkel war, und öffnete dann das Tor. Im Treppenhaus legte ich den Arm vors Gesicht und begann den Aufstieg. Ich ging schnell.
    Über die Wände zog sich eine Wolkenlandschaft aus Schimmel, die jetzt, im beginnenden Frühling, eine lebhafte, hellgrüne Färbung annahm. Im Winter, als es noch fror, hatte der Pilz grau und tot ausgesehen, doch nun schien er Kraft aus der ersten, vorsichtigen Wärme zu saugen, tastete sich vorwärts und entfaltete sich zu einem großflächigen Kunstwerk aus Gift.
    Im obersten Stockwerk hörte der Schimmel auf. Oben gab es immer frische Luft. Hier reichte der Tod nicht hin, und ich nahm den Arm von Nase und Mund. Der Schlüssel lag in meiner Hand, daumengroßes Metall, schwer und beruhigend, das in der Handfläche warm geworden war.
    Ein Schwarm Spatzen flog vor mir auf, so unerwartet, dass ich mich kurz an der Wand festhalten musste. Wenn man in einem Haus ist, und Vögel fliegen vor einem auf, gerät etwas im Kopf ins Wanken. Mein Blick raste den Vögeln hinterher, ins Dachgestühl, das dem Himmel nachgab. Ein Dach, über lange Strecken löchrig wie Spitzenbesatz. Es zerrieselte Tag für Tag in eine immer porösere Schönheit. Unsere Wohnung lag jedoch am Ende des Gangs, dort, wo das Dach noch intakt war. Ich schloss die Tür auf.
    „Na endlich“, rief Polly verschlafen aus dem Zimmer, das wir Wohnzimmer nannten. „Ich dachte schon, du hast dich für heute im Starlight eingemietet …“
    „Nein, nein. Es gab Ärger mit Rosa“, rief ich zurück und fummelte die Kette vor die Tür. Dann lehnte ich mich dagegen. Zu Hause. Irgendwie.
    - - -
    Die Dunkelheit in der Wohnung. Kugelsicher, da kam nichts durch. Das Dach hielt. Der Tag war draußen.
    Polly gähnte, dann rief sie: „Ich hab was Neues gekocht.“
    Ich stieß mich von der Tür ab und knöpfte die Jacke auf. „Ich hatte eigentlich vor, noch ein paar Jahre zu leben“, sagte ich. Da ich die Garderobe im Dunkeln nicht gleich fand, ließ ich die Jacke einfach fallen. Dann streifte ich die Schuhe ab. „Mach doch mal ’ne Kerze an, Polly!“
    „Du hast doch gesagt, wir müssen Kerzen sparen“, gab Polly zurück.
    „Ja, aber doch nicht so!“
    „Also, hör zu“, rief Polly, ohne sich weiter um das Lichtproblem zu kümmern. „Es besteht aus Paprika und Schalotten! Ich hab sie in heißes Öl gelegt, Knoblauch reingetan, mit Muskat gewürzt, einen Schuss Weißwein dazugegeben und Zucker drübergestreut.“
    „Gnade …“, stöhnte ich, während ich mich bis zur Kommode vortastete, wo die Taschenlampe liegen musste.
    „Dann Milch, Sahne, Pfeffer und Salz“, rief Polly. „Estragon und Pimpinelle. Und Anis! Wie findest du das?“
    „Das willst du nicht wirklich wissen.“
    Wenn ich arbeiten war, verbrachte Polly den Tag in der Wohnung. Nur Vincent war bei ihr. Die Stunden vertrieb sie sich mit irgendwas, zurzeit mit Kochen.
    „Es könnte Paprikotten heißen. Oder klingt das zu sehr nach Kotelett?“
    „Es klingt nach Zotten.“
    „Na, dann eben Schalottrika.“
    Polly erfand Rezepte.
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