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Schattengefährte

Schattengefährte

Titel: Schattengefährte
Autoren: Megan MacFadden
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stehlen zu können, dann hatte er sich getäuscht. Unschlüssig stand sie, das nasse Hemd klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper, und sie kreuzte die Arme vor der Brust, denn sie begann zu frieren. Besser würde es sein, das Hemd auszuziehen und zum Trocknen aufzuhängen, sie konnte ja währenddessen in das blaue Gewand schlüpfen, das war trocken und würde sie wärmen.
    Sie hob das Hemd in die Höhe und wollte es schon über den Kopf ziehen, da spürte sie plötzlich eine seltsame Scheu, sich vor diesem neugierigen schwarzen Augenpaar ganz und gar zu entkleiden. Natürlich war es nur ein Rabe, ein krächzender, verlauster Küchendieb – aber sie verbarg sich dennoch hinter einem der Mauerreste, während sie das klebrig nasse Hemd vom Körper zerrte. Sorgfältig rubbelte sie sich mit einem Ende des blauen Kleides trocken und zog es dann über. Als sie jedoch wieder aus ihrem Versteck hervorkam, stellte sie fest, dass der hinterhältige Bursche inzwischen den Platz gewechselt hatte. Er saß frech auf einem der efeubewachsenen Mäuerchen, glotzte zu ihr hinüber, und seine dunklen Augen glänzten wie silbriger Samt.
    »Hat es dir gefallen?«, fragte sie böse. »Wenn du nicht gleich verschwindest, zeige ich dir, wie gut ich mit Pfeil und Bogen umgehen kann!«
    Der Vogel hob den Kopf, als wolle er ihr seinen scharfen Schnabel weisen, dann wendete er sich ab und pickte zwischen den Efeublättern nach Spinnen und Käfern. Kaum hatte sie sich jedoch wieder an der Quelle niedergelassen und das lästige Pergament aus dem Mantel gezogen, da hörte sie schon seinen kräftigen Flügelschlag, und erneut schwankten und knackten die Haselzweige über ihr.
    Sie beschloss, ihn gar nicht mehr zu beachten. Wohlig bewegte sie die nackten Zehen, schüttelte das nasse Haar, damit es besser trocknete und entrollte das Pergament. Sie hatte richtig vermutet, es war eine düstere, traurige Geschichte. Ein Knappe hatte sich in die Tochter seines Lehnsherrn verliebt, und da er nicht das Recht besaß, um sie anzuhalten, entführte er die Schöne. Das Mädchen erwiderte seine Liebe, die beiden flohen von Ort zu Ort, doch nirgendwo fanden sie Aufnahme, denn man fürchtete die Rache des mächtigen Lehnsherrn. Zuletzt wurden sie verraten, der junge Mann stellte sich den Häschern mutig mit dem Schwert entgegen, doch die Übermacht war zu groß, und er starb im Kampf. Das Mädchen wurde zurück zu ihrem Vater geschleppt und lebte fortan in Verzweiflung.
    Sie gähnte und warf das Pergament zur Seite. Die Geschichte war zum Sterben langweilig, denn sie glich ganz und gar den Sagen, die ihr Vater ihr so gern erzählte. Immer verliebte sich irgendein junger Bursche in ein Mädchen, das er nicht haben durfte, und die beiden kamen auf schreckliche Weise ums Leben. Es war ärgerlich, denn die beiden konnten sich doch an den fünf Fingern einer Hand abzählen, wie die Sache ausgehen würde. Warum ließen sie es dann nicht gleich?
    Ein schwacher Windhauch kräuselte das Wasser des Teiches und bewegte das Pergament, das sie achtlos zwischen Gräser und Moos geworfen hatte. Erschrocken schrie sie auf, als der geflügelte Schatten über sie hinwegglitt, der Rabe fasste das Blatt und erhob sich damit vom Boden.
    »Lass das sofort fallen, du Dieb!«, kreischte sie.
    Er hatte Mühe, sich mit seiner Beute davonzumachen, denn das Pergament verfing sich zwischen den Haselästen und bekam dabei einen langen Riss.
    »Deinetwegen bekomme ich jetzt Ärger, gierige Mistkrähe!«
    Wütend lief sie zu ihrer Stute, hakte Bogen und Köcher vom Sattel und legte einen Pfeil an die Sehne. Ahnte er, was sie vorhatte? Er hatte den Kopf zur Seite gedreht, und sein rechtes samtschwarzes Augen starrte sie abwartend an, als sei er neugierig, ob sie es tatsächlich wagen würde, auf ihn zu schießen.
    Sie hatte gut gezielt, der Pfeil zischte dicht an seinem Körper vorbei durch das Gezweig, sie hatte ihn nur erschrecken, keinesfalls jedoch treffen wollen. Doch da der Dummkopf in diesem Augenblick seine Flügel ausbreitete, riss ihm das schlanke Geschoss eine Schwungfeder aus. Die blauschwarze Feder wirbelte durch die Luft, dann sank sie langsam, beständig um sich selbst kreisend in den Teich hinunter. Er krächzte laut und zischte sie mit gesenktem Kopf und gesträubtem Federkleid an, als drohe er ihr, es ja nicht noch einmal zu versuchen. Wütend zog Alina den nächsten Pfeil aus dem Köcher, doch sie kam nicht mehr dazu, ihn anzulegen. Mit einem lauten, heiseren Schrei erhob
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