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Schattengefährte

Schattengefährte

Titel: Schattengefährte
Autoren: Megan MacFadden
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Augenbrauen hoch, denn er liebte es nicht, wenn sie Fragen stellte.
    »Nichts«, sagte er kurz angebunden. »Ich sagte doch: Stein an Stein bis zum Horizont.«
    »Und hinter dem roten Gebirge? Liegt dort ein Tal? Leben dort Menschen oder andere Wesen …«
    »Es gibt keine anderen Wesen«, behauptete er und zog die Nase hoch. »Jenseits des Gebirges fällt der Fels tief hinab in den schwarzen Urgrund, wo die Welt zu Ende ist.«
    »Aber am anderen Ufer des wandernden Stroms, wo die Wolfskrieger leben, gibt es Wälder, ich habe sie selbst gesehen! Weshalb soll die Welt nur dort weitergehen? Was liegt jenseits des gläsernen Flusses? Berge? Täler? Vielleicht auch Seen?«
    Jetzt wurde er zornig, das konnte man daran sehen, dass seine Halbglatze zu glühen begann und die Oberlippe sich hinaufzog, als wolle er zubeißen.
    »Hört Ihr nicht zu, Alina?«, zischte er sie an. »Es ist nichts und niemand hinter dem gläsernen Fluss, außer einer schneebedeckten Hochfläche, die jäh in die Endlosigkeit hinabbricht. Wer sich dorthin wagt, der gerät in den Sog des schwarzen Abgrunds und stürzt unweigerlich hinunter.«
    Wenn er glaubte, sie beeindrucken zu können, dann hatte er sich getäuscht. Wer war er schon? Nur ein Lehrer, der ihrem Vater zu gehorchen hatte. Ganz sicher hatte Nessa ihn hierher geholt, ihre Stiefmutter ließ ja nie eine Gelegenheit aus, ihr das Leben schwer zu machen.
    »Das glaube ich nicht!«
    Sein Kopf fuhr herum, als habe ihn eine Mücke in den fetten Hals gestochen.
    »Was habt Ihr gesagt?«
    Sie rutschte vor bis auf die Kante ihres Schemels, streckte ihm herausfordernd die Füße entgegen, die in zierlichen Schuhen aus weichem Leder steckten, und zupfte an ihrem langen blauen Gewand herum.
    »Ich glaube nicht, dass die Welt dort zu Ende ist. Sie ist nirgendwo zu Ende, auch nicht im Himmel über uns und schon gar nicht in der Erde unter uns. Überall gibt es Leben. Nicht nur Menschen – auch viele andere Wesen!«
    Ogyn wurde jetzt blass, und seine Wangen bekamen Falten, weil er den Mund zusammenkniff.
    »Gewiss« äußerte er kühl. »Es fliegen Vögel und Insekten durch die Luft, in den Flüssen gibt es Fische, und wenn Ihr die Bauern fragt, die die Erde pflügen, so werden sie Euch sagen, dass dort Würmer und Maulwürfe zu finden sind.«
    Bauern gab es eine ganze Menge im Reich ihres Vaters. Es waren armselige Leute, mit braunen Kitteln bekleidet, sie lebten in kleinen Dörfern, beackerten den Boden, und im Herbst brachten sie die Feldfrüchte zu den Burgen.
    »Aber außer den Tieren leben im Wasser auch …«
    »Niemand!«, schnitt er ihr das Wort ab. »Du magst es glauben, oder nicht – es ist die Wahrheit.«
    Sie schwieg, denn es hatte keinen Zweck, weiter zu streiten. Sie war sich sicher, dass es im Wasser Wesen gab, die weder Mensch noch Tier waren. Gesehen hatte sie solch ein Lebewesen noch nie, doch sie kannte ihre Worte und Lieder – es war die Quelle, die sie ihr murmelnd offenbart hatte. Doch der Vater war zornig geworden, als sie solche Lieder sang, und er hatte die Ausflüge zur Quelle verboten. Sie durfte überhaupt nicht mehr allein ausreiten, sondern nur noch in Begleitung der Ritter ihres Vaters.
    Ogyn starrte sie mit boshaften Augen an, und sie spürte plötzlich, dass nicht nur Widerwille, sondern auch Angst in seinem Blick lag. Es war eine seltsame Erkenntnis, die sie ein wenig erschütterte, aber auch froh machte. Sie hatte richtig vermutet: Er log sie die ganze Zeit an und wusste es in Wirklichkeit besser. Was für ein Lehrer war das! Jetzt war sie ganz sicher, dass ihre Stiefmutter Nessa ihn bestellt hatte, um sie zu plagen.
    »Wir werden den Unterricht für heute beenden«, sagte er und erhob sich schwerfällig von seinem Sitz. »Ich empfehle Euch jedoch, bis morgen diese Geschichte zu lesen, denn ich werde Euch darüber befragen.«
    Er glättete das weite Gewand aus gelbem und schwarzem Stoff, das bis zu seinen Knien reichte. Darunter trug der eitle Kerl hellgrüne, enge Beinlinge, die seine dürren Waden deutlich sehen ließen, und lange, an den Spitzen abgestoßene Schnabelschuhe aus rotem Leder.
    »Es ist eine alte Sage, die erzählt, welch schlimmes Unglück entsteht, wenn ein Mann sich von einem Weib beherrschen lässt. Tod und Verderben ist das Los eines Mannes, der die Liebe zu einem Weib höher stellt als Ehre und Pflicht.«
    Mit spitzen Fingern nahm sie das Pergament aus seiner Hand und legte es auf ihre Knie. Was für eine blöde Sage – wer wollte so etwas
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