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Schattengefährte

Schattengefährte

Titel: Schattengefährte
Autoren: Megan MacFadden
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Süße.
    »Wirf es weg, Macha«, befahl sie. »Nein … warte! Gib es mir!«
    Kein Zweifel war möglich – es war die gleiche, dumme Sage, die gleiche, winzige Schrift, ziemlich verwischt, aber deutlich erkennbar, und auch der Riss war derselbe.
    »Es war leichtsinnig, dieses Blatt auf dem Fenstersims liegen zu lassen, Mädchen«, meinte Macha mit sanftem Tadel. »Es hat geregnet in der Nacht.«
    In der Nacht – jetzt war nichts mehr von Regen zu sehen. Das Blatt lag also schon eine ganze Weile auf dem Sims.
    »Es ist nicht klug, Ogyn herauszufordern, Alina. Er ist sowieso nicht gut auf dich zu sprechen.«
    Ein Rabe konnte eine Menge Dinge stehlen. Fleisch und Honigküchlein, blankgeputzte Sporen aus Silber, seidene Tücher und sogar bunte Haarbänder trug er davon. Ein ganz frecher Bursche hatte Nessa sogar einmal einen silbernen Ohrring abgerissen. Aber niemand hatte je davon gehört, dass ein Rabe seine Beute zurückbrachte.
    »Zum Glück hast du es wenigstens mit einem Stein beschwert, so dass der Wind es nicht davontragen konnte«, fuhr Macha seufzend fort.
    »Mit einem Stein?«
    Machas Gesicht war trotz ihres Alters noch glatt, nur wenn sie lachte oder bekümmert war, erschienen überall kleine Runzeln und Falten auf ihrer Haut. Jetzt waren es Sorgenfalten, denn Alinas Zerstreutheit wies darauf hin, dass ihr Schützling wohl doch eine Krankheit ausbrütete.
    »Leg dich noch einmal hin und decke dich warm zu, Mädchen«, ordnete sie an. »Ich werde dir einen stärkenden Trank brauen, dann kommst du ins Schwitzen, und es wird dir besser gehen.«
    Alina hatte dieses Ansinnen weit von sich weisen wollen, denn sie hasste Machas bittere Tränke. Doch als sie den Stein sah, den Macha vom Fenstersims genommen hatte, wurde ihr so schwindelig, dass sie sich vorsichtshalber hinsetzte.
    Ihr Vater hatte ihr diese Druse geschenkt, ein schwarzer Kiesel, groß wie zwei Männerfäuste und nahezu rund. Man hatte ein Stück davon abgeschlagen, so dass man die wundersam glitzernde Kristallhöhle in seinem Inneren sehen konnte. Der Drusenstein hatte noch gestern Abend auf einem niedrigen, geschnitzten Tisch gelegen, gleich neben ihrem Bett, zusammen mit anderen Dingen, die sie liebte: Getrocknete Wurzeln, die wie Menschen geformt waren, ein schön geschnitztes Bernsteinamulett, ein Ring mit zwei roten Rubinen, zwei silberne Ohrgehänge, wie kleine, fein durchbrochene Halbmonde …
    Wer auch immer diesen Drusenstein heute Nacht aufs Fenstersims gelegte hatte – er musste in ihrem Schlafgemach gewesen sein!
    Sie saß mit wild klopfendem Herzen und starrte zu Macha hinüber, die den Stein jetzt vorsichtig wieder an seinen Platz auf dem Tischlein neben ihrem Bett legte. War sie verrückt? Kein Rabe konnte solch einen schweren Stein in seinem Schnabel tragen. Was grübelte sie über diesen Raben nach? Wahrscheinlich war ihm das Blatt irgendwo aus dem Schnabel gefallen und jemand hatte es gefunden. Ogyn? Das war kein angenehmer Gedanke. Ogyn sollte sich in der Nacht in ihr Schlafgemach geschlichen haben? Aber nein, das passte nicht zu ihm. Und außerdem hatte ganz sicher Macha vor ihrer Zimmertür geschlafen, wie sie es meist tat. Baldin? Der kleine Bursche hatte das Blatt gefunden und es ihr heimlich gebracht? Aber wie? War Baldin etwa außen an der hohen Mauer emporgeklettert und in ihr Gemach gestiegen? Auf dem Fenstersims hockend hätte er mit langem Arm die Druse von ihrem Tischchen angeln können, um damit das Pergament zu beschweren. Aber das wäre halsbrecherisch gewesen, denn die Fenster lagen gut drei Manneslängen über dem Hof
    Sie fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das wirre Haar und entschied, dass sie nicht weiter darüber nachdenken wollte. Auch die schweren Träume, die jetzt wieder in ihr aufstiegen, die wehenden, gefiederten Schatten und das seltsame, bittersüße Empfinden – fort damit! Ihr Vater kehrte zurück, das war ein Grund zur Freude. Sie würde sich festlich ankleiden und das Haar flechten, so wie er es an ihr liebte, und wenn sie neben ihm an der Tafel saß, von allen Rittern bestaunt und bewundert, würde sie ihren Vater, den König, zärtlich darum bitten, ihr einen anderen Lehrer zu geben. Sollte Ogyn sich doch seinen gelehrten Studien widmen, das tat er sowieso viel lieber, als ein dummes, kleines Mädchen zu unterweisen.
    Als die alte Macha mit einem dampfenden Becher in der Hand zurückkehrte, fand sie ihren Schützling angekleidet auf einem Hocker sitzend , bemüht, das lange Haar mit
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