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Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)

Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)

Titel: Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Autoren: Nora Roberts
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doch wohl nicht den ganzen Abend bei diesen Bücherwürmern rumhängen, oder? Wie wär’s, wenn wir einen Zug durch ein paar Kneipen machen würden?«
    Kelsey schüttelte nur den Kopf und marschierte durch die Halle auf das Arbeitszimmer ihres Vaters zu.
    »Kelsey!« rief Candace scharf und verärgert. »Mußt du deine schlechte Laune so deutlich zeigen?«
    O ja, dachte Kelsey, als sie die Tür zum Heiligtum ihres Vaters aufriß. Und ob!
    Ohne einen Ton zu sagen schlug sie die Tür hinter sich zu. In ihrem Inneren brodelte es, böse, bittere Worte der Anklage würgten ihre Kehle. Philip saß an seinem geliebten Eichenholzschreibtisch, hinter aufgestapelten Büchern und Akten nahezu verborgen, und hielt einen Stift in seiner knochigen Hand. Von jeher vertrat er die Ansicht, daß man nur dann etwas Sinnvolles produzieren konnte, wenn man den Bezug zum Handschriftlichen nicht verlor, und er weigerte sich daher beharrlich, einen Computer zu benutzen.
    Seine Augen hinter der silbergerahmten Brille zeigten jenen eulenhaften Ausdruck, den sie immer annahmen, wenn er der Welt vollkommen entrückt war. Das Licht der Schreibtischlampe glänzte auf seinem kurzgeschnittenen silbergrauen Haar.
    »Da ist ja mein Mädchen. Du kommst rechtzeitig, um den Entwurf meiner Abhandlung über Yeats Korrektur zu lesen. Ich fürchte, er ist ein wenig weitschweifig ausgefallen.«
    Wie normal, wie alltäglich er wirkt, dachte Kelsey. Als ob nichts wäre, so saß er da, umgeben von seinen Werken der Dichtkunst, in seinem Tweedjacket und der ordentlich gebundenen Krawatte.
    Ihre Welt dagegen, deren Mittelpunkt er bildete, war in tausend Stücke zersprungen.
    »Sie ist am Leben«, sprudelte es aus Kelsey hervor. »Sie ist am Leben, und du hast mich die ganze Zeitbelogen.«
    Er wurde sehr blaß und wandte den Blick von ihr ab. Doch für einen Augenblick, Bruchteile von Sekunden nur, hatte Kelsey Furcht und Entsetzen in seinen Augen gesehen.
    »Wovon redest du eigentlich, Kelsey?« sagte er, aber er wußte es bereits, wußte es nur zu gut, und er mußte all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um den bitteren Tonfall aus seiner Stimme zu verbannen.
    »Lüg mich jetzt nicht an!« schrie sie und stürzte auf seinen Schreibtisch zu. »Lüg mich nicht an! Meine Mutter lebt, und du wußtest es! Du wußtest es die ganze Zeit, während du mir weisgemacht hast, sie sei tot.«
    Panik durchfuhr Philip. »Wer hat dich denn auf die Idee gebracht?«
    »Sie selbst«. Kelsey griff in die Tasche und zog den Brief heraus. »Meine Mutter. Wirst du mir jetzt die Wahrheit sagen?«
    »Darf ich mal sehen?«
    Kelsey starrte ihn an mit einem Blick, der bis in sein Innerstes zu dringen schien. »Ist meine Mutter tot?«
    »Nein. Darf ich den Brief mal sehen?«
    »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« Die Tränen, die sie mühsam zurückgehalten hatte, drohten ihr jetzt in die Augen zu steigen. »Nichts weiter als nein? Nach all den Jahren, all den Lügen?«
    Nur eine einzige Lüge, dachte er, und bei weitem nicht genug Jahre. »Ich werde mein Möglichstes tun, um dir alles zu erklären, Kelsey. Aber laß mich zuerst den Brief lesen.«
    Wortlos reichte sie ihrem Vater den Brief, und da sie es nicht ertragen konnte, ihn zu beobachten, drehte sie sich um und sah durch das schmale Fenster, wie die hereinbrechende Nacht die Dämmerung vertrieb.
    Philips Hand zitterte so stark, daß er den Brief auf den Schreibtisch legen mußte. Die Handschrift war unverkennbar. Furchteinflößend. Sorgfältig, Wort für Wort las er das Schreiben.
    Liebe Kelsey,
    Du bist bestimmt überrascht, von mir zu hören. Aber es schien mir unklug, oder zumindest unfair, schon früher Kontakt mit Dir aufzunehmen. Obwohl ein Anruf persönlicher gewesen wäre, wollte ich Dir Zeit geben. Ein Brief gibt Dir mehr Zeit, Dir über Deine Absichten klarzuwerden.
    Als du noch sehr klein warst, hat man Dir erzählt, ich sei gestorben. In gewisser Hinsicht traf das zu, und ich erklärte mich einverstanden, um Dich zu schonen. Doch nun sind zwanzig Jahre vergangen, und Du bist kein Kind mehr. Ich denke, Du hast ein Recht zu erfahren, daß Deine Mutter am Leben ist. Vielleicht wird Dir diese Neuigkeit nicht gefallen. Wie dem auch sein, ich habe mich entschlossen, Kontakt mit Dir aufzunehmen, und ich bereue diese Entscheidung nicht.
    Wenn Du mich sehen willst oder einfach nur Fragen hast, die der Klärung bedürfen, dann bist Du herzlich willkommen. Ich lebe auf der Three-Willows-Farm, etwas außerhalb von Bluemont,
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