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Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)

Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)

Titel: Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
Autoren: Nora Roberts
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Virginia. Diese Einladung gilt unbegrenzt, und wenn Du Dich entschließen solltest, ihr zu folgen, würde ich mich freuen, Dich bei mir zu haben, so lange Du willst. Wenn ich nichts von Dir höre, entnehme ich daraus, daß Du keinen Kontakt mit mir wünschst. Ich hoffe aber, daß die Neugier, die Dich schon als Kind angetrieben hat, dazu bringt, mit mir zu sprechen.
    Deine
    Naomi Chadwick
    Naomi. Philip schloß die Augen. Großer Gott, Naomi.
    Beinahe dreiundzwanzig Jahre war es her, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, doch er konnte sich mit schmerzhafter Deutlichkeit an sie erinnern. An das Parfüm, das sie benutzt hatte und das ihn immer an dunkles Moos und Gräser denken ließ, an ihr helles, ansteckendes Lachen, das seine Wirkung auf andere Menschen nie verfehlte, an
ihr silbrigblondes Haar, das ihr wie ein Wasserfall den Rücken hinunterfloß, an die dunklen Augen und den schlanken Körper.
    Die Erinnerung war so lebhaft, daß Philip meinte, sie leibhaftig vor sich zu sehen, als er die Augen wieder öffnete. Sein Magen zog sich zusammen, teils vor Furcht, teils vor lang unterdrücktem Verlangen.
    Aber es war Kelsey, die hochaufgerichtet vor ihm stand und ihm den Rücken zukehrte.
    Wie war es nur möglich, daß er Naomi vergessen hatte, fragte er sich, wo er doch nur ihre Tochter ansehen mußte, um ihr Ebenbild vor sich zu haben.
    Philip erhob sich und schenkte sich aus einer Kristallkaraffe einen Whisky ein, der eigentlich nur für Besucher gedacht war. Er selbst rührte kaum etwas Stärkeres an als ein kleines Glas Brombeerwein. Doch jetzt brauchte er einen Whisky, um seine zitternden Hände zu beruhigen.
    »Was hast du nun vor?« wollte er von seiner Tochter wissen.
    »Ich habe mich noch nicht entschieden.« Sie wandte ihm weiterhin den Rücken zu. »Das hängt zum großen Teil davon ab, was du mir erzählst.«
    Philip wünschte, er könnte zu ihr gehen und sie in den Arm nehmen. Aber im Moment würde sie diese Geste nicht zulassen. Er wünschte, er könnte in seinen Stuhl sinken und das Gesicht in den Händen vergraben, doch das wäre nutzlos und zudem ein Zeichen von Schwäche.
    Am meisten jedoch wünschte er, er könnte die Zeit um dreiundzwanzig Jahre zurückdrehen und etwas, irgend etwas tun, um den unaufhaltsamen Lauf des Schicksals, das jetzt sein Leben zerstörte, abzuwenden.
    Doch auch das war unmöglich.
    »Es ist nicht einfach, Kelsey.«
    »Lügengewebe sind meistens kompliziert.«
    Kelsey drehte sich um, und Philips Finger schlossen sich unwillkürlich fester um das Kristallglas. Sie sah Naomi so ähnlich mit ihrem nachlässig gebundenem hellen Haar, den dunklen Augen, der vor Erregung geröteten
Haut ihres zarten Gesichts. Manche Frauen sahen dann am besten aus, wenn sie ihr Temperament kaum noch zügeln konnten.
    Naomi hatte zu diesen Frauen gehört. Genau wie ihre Tochter.
    »In all den Jahren hast du mich angelogen, nicht wahr, Vater?« fuhr Kelsey fort. »Du hast gelogen, Großmutter hat gelogen, sie hat gelogen.« Sie deutete auf den Brief auf dem Schreibtisch. »Und wenn dieser Brief nicht gekommen wäre, dann hättest du mich auch weiterhin angelogen.«
    »Das ist richtig. Solange ich es für das beste für dich gehalten hätte.«
    »Das beste für mich? Wie könnte es das beste für mich sein, meine Mutter für tot zu halten? Wie kann überhaupt eine Lüge das beste für jemanden sein?«
    »Du warst dir schon immer so sicher, was richtig und was falsch ist, Kelsey. Eine bemerkenswerte Eigenschaft.« Er hielt inne und trank einen Schluck. »Und eine sehr erschreckende. Schon als Kind hattest du fest umrissene Moralvorstellungen. Für gewöhnliche Sterbliche ist es schwierig, da mitzuhalten.«
    In Kelseys Augen loderte es. Das ähnelte stark dem, was ihr auch Wade immer vorgeworfen hatte. »Also ist es meine Schuld?«
    »Nein, nein.« Er schloß die Augen und rieb sich geistesabwesend die Stirn. »Nichts davon ist deine Schuld, aber du warst der Anlaß für alles.«
    »Philip!« Nach kurzem Klopfen öffnete Candace die Tür zum Arbeitszimmer. »Die Dorsets sind da.«
    Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln: »Kümmere du dich um sie, Liebes. Ich habe noch etwas mit Kelsey zu besprechen.«
    Candace warf ihrer Stieftochter einen Blick zu, in dem sowohl Mißbilligung als auch Resignation lag. »Na gut, aber bitte nicht so lange. Um sieben Uhr ist das Essen fertig. Kelsey, soll ich noch ein Gedeck auflegen?«
    »Nein, danke, Candace. Ich bleibe nicht.«
    »Gut, aber halte bitte deinen
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