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Schatten Der Versuchung

Titel: Schatten Der Versuchung
Autoren: Christine Feehan
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mit seinen bizarren, bösartigen Schatten, die auf ihn lauerten, wirkte düster und grau. Der endlose Kreislauf des Lebens blieb bestehen. Fressen oder gefressen werden.
    Der Hunger war jetzt ständig gegenwärtig, ein leises, lockendes Raunen in seinem Inneren. Der Wunsch nach Macht und Erfüllung, so trügerisch er auch sein mochte, war mit jedem Erwachen stärker geworden. Er hatte viele Kämpfe ausgetragen, mehr, als er zählen konnte, alte Freunde vernichtet, Männer, die er einmal geachtet und bewundert hatte: Er hatte den Niedergang seines Volkes beobachtet – und wofür das alles? »Sag mir den Grund«, flüsterte er in die Nacht. »Lass mich verstehen, warum mein Leben völlig verschwendet war.«
    Hatte er in dieser Nacht schon Nahrung zu sich genommen? Er versuchte sich an den Moment seines Erwachens zu erinnern, aber es schien eine zu große Anstrengung zu sein. Bestimmt hatte er kein Leben genommen, während er sich vom Blut seines Opfers genährt hatte, oder? Geschah es auf diese Weise ? Gab es keine bewusste Entscheidung, nur die Teilnahmslosigkeit, die immer größer wurde, bis die Nahrungsaufnahme unverbrüchlich mit Töten verbunden war und Gleichgültigkeit zu der Waffe wurde, die seine eigene Zerstörung herbeiführte?
    Er schaute nach Süden, wo, wie er wusste, der Herrscher seines Volks residierte. Der Wind begann stärker und schneller zu wehen und in südlicher Richtung durch den Wald zu fegen. »Ehre ist eine verwunschene Eigenschaft und eine, die vielleicht keine Ewigkeit andauert.« Mit einem kleinen Seufzer murmelte Vikirnoff die Worte, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und sein langes Haar im Nacken mit einer Lederschnur zusammenband. Besaß er noch Ehre? Hatte das Tier, das in seinem Inneren lauerte, ihn nach jahrhundertelangen Bemühungen, sein Wort zu halten, doch besiegt?
    Die Blätter auf den Bäumen in seiner Nähe fingen an zu rascheln, und die Äste schwangen unruhig hin und her. Er war Karpatianer, Angehöriger einer uralten Basse, die jetzt vom Aussterben bedroht war. Es gab unter ihnen nur wenige Frauen, die so wichtig für die Männer und die Erhaltung ihrer Art waren. Mann und Frau waren zwei Hälften eines Ganzen, und die Männer wurden von der Dunkelheit beherrscht, während in den Frauen das Licht lebte. Ohne Frauen, die ihnen Halt gaben, fielen die Männer irgendwann ihren eigenen gierigen Dämonen zum Opfer.
    Vikirnoff lebte unter Menschen und versuchte, Ehre und Disziplin in einer Welt zu bewahren, in der es für ihn weder Farben noch die leisesten Gefühlsregungen gab. Nach zweihundert Jahren waren seine Gefühle verblasst, und im Lauf der endlosen Jahrhunderte war das finstere Raubtier in seinem Inneren stark und mächtig geworden. Allein vage Erinnerungen an Lachen und Liebe hielten ihn aufrecht, und auch das war nur durch die Nähe zu seinem Bruder Nicolae möglich. Jetzt war auch das vorbei, da ein Ozean ihn von Nicolae trennte.
    Vikirnoff hatte zu lange gelebt und war zu gefährlich geworden. Seine Fähigkeiten im Kampf waren außerordentlich und in viel zu vielen Begegnungen mit denjenigen seiner Art verfeinert worden, die ihre Seelen für die kurzlebige Illusion von Macht oder vielmehr – was noch tragischer war – für einen kurzen Augenblick des Fühlens aufgegeben hatten. Er hatte das Gefühl, eigenhändig sein Volk auszulöschen. So viele Tote. So viele verlorene Freunde. »Wofür?«, fragte er laut. »Möéri?« Wieder benutzte er seine Muttersprache.
    Vikirnoff hatte bewusst das karpatianische Wort verwendet, um sich seine Pflicht und sein Versprechen gegenüber seinem Prinzen in Erinnerung zu rufen. Er hatte freiwillig angeboten, in die Welt hinauszugehen. Es war seine eigene Entscheidung, war es immer gewesen. Sein eigener freier Wille. Aber er war nicht mehr frei. Er war so knapp davor, zu ebendem Wesen zu werden, auf das er Jagd machte, dass er kaum noch erkennen konnte, wer oder was er war.
    Der Boden schwankte unter seinen Füßen, und das Grollen des Nachthimmels klang wie eine unheilvolle Warnung. Irgendwo vor ihm befand sich die Person, die er suchte – eine Frau mit blauen Augen, die er über einen ganzen Ozean hinweg verfolgt hatte. Zwischen der Frau und Vikirnoff stand ein Vampir, vielleicht mehr als einer.
    Vikirnoff zog das Foto der Frau aus der Brusttasche dicht an seinem Herzen. Er konnte nur Grautöne sehen, aber trotzdem hatte er gewusst, dass ihre Augen blaugrün wie das Meer waren, und Nicolae hatte ihm erzählt, dass
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