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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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Gesprächspartner: »Viele werden dort hängenbleiben. Die Leute werden versorgt. Man bekommt, was man braucht. Das ist eher so, dass die ­Tafeln die Armut fördern!« Bei der Tafel sehen sie andere ­Menschen, denen es »richtig schlecht« geht – eine unendliche Serie persönlicher Niederlagen, dort, wo Menschen auf Erfolge hofften und vom Leben enttäuscht wurden. Sie sehen auch, dass viele Menschen sich innerlich gebrochen in einer Parallelwelt eingerichtet haben: »Die wollen da gar nicht mehr raus. Die haben sich da gut eingerichtet, da fehlt der eigene Antrieb«, fasst die Studentin zusammen. Kein Zweifel, dass dies für sie selbst anders ist. Und ihr Mann fügt noch einen Satz hinzu, der das Ausmaß der Gewöhnung an ein Almosensystem innerhalb der neuen Armutsökonomie drastisch auf den Punkt bringt: »Die lassen sich dort einfach abfüttern.«

Ein kleiner Hitler müsste kommen
    Wochenlang bin ich immer wieder unterwegs in allen Teilen des Landes. Während dieser Reisen kämpfe ich gegen die Versuchung an, mich nur vom ersten Blick leiten und täuschen zu lassen. In der vorlesungsfreien Zeit im Winter und im Sommer nehme ich mir Zeit für Begegnungen und Gespräche, die sich nicht in klassische Lehrbuchkategorien einordnen lassen. Zu Beginn dieser Reise mache ich mir über die daraus resultierenden Konsequenzen (zum Glück) noch keine Gedanken. Noch steht die Neugierde im Vordergrund, das ungebrochene Interesse daran, mehr über die Armut mitten unter uns zu erfahren. Einige der Begegnungen werde ich nie vergessen. Eine wie die folgende.
    Meine Zieladresse befindet sich am Rand der Stadt. Vom nahegelegenen Flughafen starten im Minutentakt dröhnend Maschinen in einen wolkenverhangenen Himmel. Shake­speare kommt mir in den Sinn: »Ein bewölkter Himmel klärt sich ohne Sturm nicht auf.« Ein Sturm der Entrüstung angesichts der Armutsökonomie in Deutschland blieb allerdings bislang aus. Die Entrüstung hat sich gut versteckt: unter dem Mantel der Anpassung, dem Gewand des Profits, dem Kleid der Gewöhnung. Jede Lebensgeschichte, die sich vor mir ausbreitet, ist wie ein Blick in diese neue Kleiderordnung. Unter dem Mäntelchen der neuen Ideologie vom zivilgesellschaft­lichen Engagement verbergen sich Trostlosigkeit und Apathie einer hilflosen oder zynischen Politik.
    Die Ortsdurchfahrt ist gesäumt von Nagelstudios, dazu gefühlte Massen von Friseursalons. Ein Geschenkladen mit dem Namen »Traumland« auf der einen Straßenseite, ein schäbiger »Döner King« auf der anderen. Doch nichts wirkt paradiesisch oder königlich. Weder die nach Forschern und Nobelpreis­trägern benannten Straßen noch die grell angemalten Hausfassaden oder die in grelle Farben getunkten Autos tragen dazu bei, Schein und Sein in Deckung zu bringen.
    Im zehnten Stock eines Wohnblocks, der im Webauftritt des Ortes nicht vorkommt, treffe ich mich pünktlich zur verab­redeten Zeit mit einem älteren Ehepaar. Der Mann öffnet mir die Tür. Zwischen zwei Krücken bewegt er sich mühsam und wortlos ins Innere der kleinen Wohnung. Weißer Jogging­anzug, dickes Goldkettchen, viel Gel im schütteren Haar. Zufrieden wie jemand, der gerade eine sportliche Glanzleistung vollbracht hat, fällt er neben seiner Frau auf das Sofa. Nach über 30 Jahren Ehe äußern die beiden Meinungen nur noch im Duett. Zigarettenduft hängt in der Wohnung. Die Deko­ration besteht im Wesentlichen aus dem Stilelement Stoffpüppchen. Deren friedfertige Ausstrahlung kontrastiert auf irrwitzige Weise mit der ebenfalls gemeinsam geteilten Ner­vosität des Paares. Trotz oder gerade wegen ihrer Gereiztheit wirken die beiden müde. Wir beginnen, wie immer, mit dem Leben vor der Tafel, der Ouvertüre.
    Er war Handwerker. Es war eine gute Zeit.
    So ähnlich beginnen fast alle Geschichten, die ich nach und nach aufspüre und aufzeichne. Bis zu dem Tag, an dem er auf einer Baustelle stürzte und viele Meter in die Tiefe fiel. Ein Sturz aus dieser Höhe bedeutet ohne Schutzengel ein sicheres Todesurteil. Sein Schutzengel sorgte dafür, dass er durch ein Glasdach fiel, das seinen Sturz abbremste, ihm aber unend­liche Schmerzen bereitete. Als er im Krankenhaus wieder zu sich kam, war das im Wirtschaftswunderrausch verbrachte Leben vorbei. »Heute sitze ich hier, mit 14 Implantaten und Schrauben so dick wie ein kleiner Finger in den Wirbeln drin.« Mit diesen Worten beschreibt er im sachlichen Ton den Grund für seine Arbeitsunfähigkeit – es klingt, als würde er
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