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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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unterschiedlich diese auch sein mögen. Auch wenn sie es selbst nie so ausdrücken würden, es ist in den Worten, den Gesten und den Blicken.
    Was also war passiert? »Das Konto hat gesprochen«, lautet die lapidare Antwort des Mannes. Als verheiratete Studierende erhielten sie eine Zeitlang kein BAföG – so die gesetzliche Regelung. Sie machten alles richtig (Kinder, Heiraten, Studium), nur nicht in der erwünschten Reihenfolge (Studium, Heiraten, Kinder). Die Zufälle des Lebens hielten sich in diesem Fall offenbar nicht an die Regeln der Bürokratie. In Deutschland reicht allein das aus, um ein existentielles Problem entstehen zu lassen und ein junges Paar nach einiger Zeit zu regelmä­ßigen Tafelnutzern zu machen. »Im Nachbarort eröffnete eine Tafel, Flyer lagen aus. Man hörte immer mal was. Vor allem, dass man da nicht hingeht«, betont der Student. Warum? »Weil da nur die Armen hingehen! Und wer will schon arm sein? Niemand!«, legt seine Frau nach. »Aber das Konto sprach eine deutliche Sprache. Man konnte nicht anders«, antwortet nun wieder der Mann auf die Frage nach dem Grund für die Tafelnutzung. Und versteckt sich dabei hinter dem »man«, so als spräche er über andere und nicht über sich und seine Frau. Dieser sonderbaren Distanz zum eigenen Leben werde ich später immer wieder begegnen. Sie funktioniert wie ein Schutz­mechanismus, um den krisenhaften Bruch mit der Norma­lität überhaupt aushalten zu können.
    Alle Vorurteile des Paares wurden dann auch beim ersten, nie für möglich gehaltenen Kontakt mit der ›zuständigen‹ Tafel bestätigt, als die ehrenamtliche Tafelhelferin ihre gesamte Existenz mit nur einem einzigen achtlos dahingeworfenen Satz in Frage stellte: »Ja, ja, man sollte sich das Kinderkriegen eben gut überlegen …« Auch noch ein Jahr nach dieser übergriffigen Dreistigkeit sehe ich Wut und Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern eingeschrieben.
    Doch in einem Jahr kann, auch bei diesem Paar, viel pas­sieren. Inzwischen ist der regelmäßige Gang zur Tafel fester Bestandteil ihres Lebensplanspiels geworden. »Jede Woche Einkäufe für ein paar Euro bei der Tafel«, berichten sie. Die ­Tafeln verlangen einen kleinen Betrag von den Besuchern, entweder eine ›symbolische Münze‹ (1 bis 2 Euro pauschal) oder einen Anteil des ehemaligen Ladenpreises (ca. 10 bis 15 Prozent). Das Pärchen rechnet mir vor: »Bei Aldi wären das zwischen 40 und 80 Euro im Monat für die gleiche Menge an Lebensmitteln. Die sparen wir dann eben.« Diese Hunger-Arith­metik wird gegenwärtig hunderttausendfach angewandt, so oder so ähnlich. Einfach nur, um das Konto zum Schweigen zu bringen.
    Die Welt der Tafel erleben die beiden als eine durch und durch anormale Welt. Eine Welt, in der man eine Nummer bekommt. In der eine Person mit der Nummer 55 (oder 65, 75, 85 …) keine Chance mehr auf das hat, was für die »niedrigen Nummern« im Angebot war. »Das Angebot wird dann dünn. Manche streiten sich um die letzte Schale Erdbeeren«, so berichten beide übereinstimmend. Die Tafel ist eine Welt, in der von ihnen verlangt wird, sich über eine halbgefüllte Shampoo-Flasche zu freuen. Sie haben, wie viele andere Tafelnutzer, unzählige weitere Beispiele – Anzeichen für eine schleichende Verschiebung innerhalb unserer Gesellschaft, Signale einer Abwärtsspirale der Menschlichkeit. Es beginnt damit, sich Vorhaltungen darüber anhören zu müssen, was man in seinem Leben alles falsch gemacht hat.
    Noch problematischer als diese Spirale ist die Tatsache, dass sich alle, wirklich alle, die am Bau dieser Welt beteiligt sind, daran gewöhnen. Eine Demaskierung des Selbstverständ­lichen ist nach 20 Jahren Tafeln in Deutschland gar nicht mehr vorgesehen. Auch meine beiden Gesprächspartner sind erstaunt darüber, »wie normal das alles inzwischen geworden ist«. Auch wenn der Stachel, den die erste Begegnung hinterlassen hat, tief sitzt, übertüncht die Macht der Gewohnheit fast alles: »Irgendwann fällt es einem gar nicht mehr auf. Das ist völlig normal, da gewöhnt man sich dran.«
    Die Tafel ist für die beiden zum Glück nur eine Durchgangsstation. An ihren Zukunftsplänen bin ich in winzigen Details beteiligt. Was dieses Paar angeht, kann ich aufatmen. Es wird gutgehen. So gesehen erfüllen hier die Tafeln ihre Funktion als Notanker in einer zeitlich begrenzten Lebens­situation – für viele andere aber wird es keinen solchen Ausweg geben. Das bestätigt mir auch mein
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