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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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höchstwahrscheinlich – nicht vertraut ist. Für die meisten von Ihnen stellt es also eine Reise zu »unbekannten Wesen« dar. Es soll aber auch eine Einladung sein, Armutsbetroffene als Mit­bürgerinnen und Mitbürger anzuerkennen und verstehen zu lernen. Deshalb steht im Folgenden konsequent die Perspektive von Armutsbetroffenen im Vordergrund – schon damit nicht einmal mehr nur die Politiker, Wohltäter und Journalisten das letzte Wort haben.
    Neu ist die Klage über die Unsichtbarkeit der Betroffenen natürlich nicht. Die Historikerin Elisabeth Herrmann-Otto weist schon für die Antike eine gravierende Einseitigkeit des Quellenmaterials nach. Die Ärmsten und Bedürftigsten hinterließen keine Zeugnisse, nur die Wohltäter. Um Armut zu verstehen, bleibt dann nur ein Zerrbild, das allein die Ge­berperspektive zeigt. 67 Genau das ist aber nicht zielführend. Wenn diejenigen, die die Mittel verwalten, auch die Defini­tionshoheit beanspruchen, bleibt die Armut im Wesentlichen unverstanden.
    Ich wollte diese Definitionshoheit brechen. Dafür war es unerlässlich, dass ich mich direkt mit den betroffenen Menschen traf – abstraktes Wissen und »Verandasoziologie« 68 helfen an dieser Stelle nicht weiter. Mein Weg führte mich dabei über die Tafeln: 2009 beschloss ich, eine Studie in mehreren Etappen zu unternehmen. Der Auslöser war ein Aha-Erlebnis. Irgendwann wurde ich von einer Tafel eingeladen, die ihr 5-jähriges Bestehen »feiern« wollte. Die Veranstalter hatten sich eigentlich eine Podiumsdiskussion gewünscht, an der auch einige der eigenen ›Kunden‹ teilnehmen sollten. Ich hatte stattdessen vorgeschlagen, zwei Nutzer dieser Tafel zu interviewen und dann im Rahmen meiner Rede stellver­tretend für sie als eine Art Botschafter zu sprechen. Ich sprach daher ausführlich mit zwei Frauen und verband ihre Aussagen mit meinen Beobachtungen. Mit einigen O-Tönen (natürlich in anonymisierter Form) unterfüttert, breitete ich die Erfahrungen der Tafelnutzerinnen vor anwesenden ehrenamt­lichen Helfern, örtlichen Spendern und lokalen Politikern aus. Nach meiner Rede herrschte betretenes Schweigen im vollen Saal. Die Stimmung war im Eimer. Einmal mehr zeigte sich, was passiert, wenn Informationen nicht mit der eigenen Weltsicht übereinstimmen. Ich lieferte keine Beschreibungen aus der heilen Welt, so wie sie sich die Zuhörer wohl gerne gewünscht hätten. Vielmehr schilderte ich den gestörten Alltag von Menschen, die sich in Randgebieten der Gesellschaft panisch damit abquälten, ein Stückchen Normalität zu erhalten. Mir wurde plötzlich klar, dass viele der Anwesenden fast gar nichts über die Menschen wussten, denen sie zu helfen versuchten. Und vieles auch nicht wissen wollten. Und ich selbst wusste auch noch zu wenig.
    Als ich nach Hause fuhr, gab ich mir selbst zwei Versprechen: Ich wollte nie wieder einen Vortrag halten, bei dem ich nicht auch auf die Perspektive der Betroffenen hinwies. Und ich wollte zu einer Reise aufbrechen, an deren Ende ich selbst hoffentlich ein genaueres Bild von jenem »unbekannten Wesen« haben sollte. Als Soziologe und Feldforscher sah ich mich dazu aufgerufen, die Scheinwerfer in die Welt zu richten, in der wir leben, um diese in einem anderen Licht zu zeigen.
    Zwischen 2009 und 2012 reiste ich daher von Castrop-Rauxel im Westen bis nach Thüringen im Osten, von München bis nach Ostfriesland, um immer wieder Gespräche mit Armutsbetroffenen zu führen. Winter wie Sommer reihten sich die Gespräche aneinander, immer wieder war ich in meiner vor­lesungsfreien Zeit für zwei oder drei Wochen unterwegs. Meine Reise führte mich durch ein vordergründig heiles Land. Der eigentliche Schauplatz dieser Reise aber war ein Land im Land, das ich erst mühsam entdecken musste – das Schamland .
    Einen Teil der dabei gemachten Beobachtungen habe ich zu kleinen soziologischen Szenen verdichtet. Diese Ansichten aus dem Schamland erheben keinen Anspruch auf Voll­ständigkeit oder Repräsentativität. Sie sind vielmehr Teil einer fortlaufenden Erzählung, die sich aus der Tiefe der eigenen Beobachtungen und der Unvergesslichkeit der zwischenmenschlichen Begegnungen speist.
    Ich habe für meine Leser die Szenen ausgewählt, die mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben sind. Diese bilden das zweite Kapitel Trostbrot , in dem ich von Begegnungen bei Tafeln, Tiertafeln, Suppenküchen, Wärmestuben, Sozialkaufhäusern und in einem Sammellager für Asylbewerber erzähle. Im dritten
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