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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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Vieles im Leben nicht gerecht verteilt ist, ist solange hinnehmbar, wie man selbst einen hinreichend festen Boden unter den Füßen verspürt und sich in der Lage sieht, eigenen Bedürfnissen nachzukommen und aus seinem Leben etwas machen zu können. Nicht das Greifen nach unerreichbaren Sternen ist das Begehren der meisten Menschen, sondern der Wunsch … nicht anderen ausgeliefert zu sein und nicht in ein Loch zu fallen, wenn man von Schicksalsschlägen getroffen wird.« 1 Im Schamland aber sind Mitbürgerinnen und Mitbürger anderen ausgeliefert. Es wäre die Aufgabe von Politikern, genau dies zu verhindern. Notwendig dazu ist allerdings eine ehrliche Interpretation der gesellschaftlichen Realität.
    An diesem Tag im Frühjahr 2010 schöpfte ich Kraft und Hoffnung, weil ich glaubte, dass die Richter tatsächlich Einfluss auf das politische System hätten. Aber schon im Sommer 2012 dämpfte der Leiter des Bundessozialgerichts Kassel meine ­Erwartungen: Arme, die mit den knapp 140 Euro, die der Hartz- IV -Regelsatz für Lebensmittel vorsieht, nicht aus­kämen, könnten doch, so seine Argumentation, zu den Tafeln gehen. 2
    Die größte Gefahr besteht für mich darin, dass sich eine Art Blindheit durchsetzt, dass wir dort wegschauen, wo es nötig wäre zu handeln. Regelmäßig erlebe ich dies auf öffentlichen Veranstaltungen von Stiftungen und Wohlfahrtsverbänden, zu denen ich als Redner oder Diskutant eingeladen werde. Meist läuft alles sehr ritualisiert ab. Schon im Vorfeld lobt ein möglichst hochrangiger Vertreter der veranstaltenden Orga­nisation das Engagement der Ehrenamtlichen und macht deutlich, dass dieses als uneingeschränkt anerkennenswert zu gelten habe. Aber man müsse sich eben auch der Kritik stellen. Das ist dann meine Rolle. Dann darf ich einen (mehr oder weniger) kritischen Vortrag halten. Anschließend wird diskutiert oder in sogenannten Murmelrunden die eigene Erfahrung ­abgefragt. Dabei wird über Tafeln und Suppenküchen gesprochen, wie man eben so spricht, wenn man nicht selbst hingehen muss.
    Nur einmal erlebte ich, wie sich die Widerspenstigkeit der Welt zeigte und die Nähe zur Realität plötzlich da war, hautnah und ungeplant. Mitten in einer dieser durchorganisierten Veranstaltungen stand eine Frau auf und griff sich das Saal­mikro­fon. Nach mehreren Anläufen schaffte sie es, stockend zu spre­chen. »Es geht, wenn man sich nicht so viel leisten kann, das geht. Wenn man nicht so tolle Klamotten hat wie andere, das geht auch. Aber wenn meine siebenjährige Tochter nach Hause kommt, und mich fragt, Mami, sind wir arm? Das geht nicht!« Da war pure Verzweiflung. »Ich schäme mich so sehr, da auf der Straße zu stehen.« Sie richtete sich an den anwesenden Leiter der örtlichen Tafel und fragte ihn, während sie in Tränen ausbrach: »Warum machen Sie das mit uns? Wir sind doch auch Menschen!«
    Nach der Veranstaltung kam ein Mann auf mich zu. Er war unzufrieden mit dem Ergebnis des Abends. »Viel Gerede, keine Lösungen, wie immer.« Er fragte nach einem meiner Bücher, ich gab es ihm. Dann erkundigte er sich nach dem Preis. Ich nannte ihn. Er blättert noch ein wenig in dem Buch und gab es mir dann zurück. Auf der Straße unterhielten wir uns weiter, denn wir hatten den gleichen Weg. Ich verabschiedete mich. »Meine Tasche ist zu schwer«, sagte ich und gab ihm das Buch.
    Er schaute mich an. »Stefan, es ist kalt, du musst gut auf deinen Kopf aufpassen.«
    Ich setzte meine Mütze auf und ging.

Danksagung
    Bevor ich allen, die mir geholfen haben, meinen Dank ausspreche, möchte ich John Searle erwähnen, einen großen Philosophen. Eine Stelle in seinem Buch Wie wir die soziale Welt machen liest sich wie eine perfekte Anleitung zur öffentlichen Soziologie. »Wenn du es nicht klar sagen kannst, verstehst du es selbst nicht; und wenn du es im Rahmen öffentlicher ­Debatten nicht erfolgreich verteidigen kannst, solltest du es nicht veröffentlichen.« Ich fand dieses Zitat im Danksagungskapitel seines Buches. Man sollte diese Kapitel also nicht überblättern.
    Dieses Buch wäre ohne die direkte Hilfe zahlreicher Personen nicht möglich gewesen. Jeder Versuch, allen Beitragenden zu danken, kann eigentlich nur scheitern. Dennoch will ich es versuchen.
    Allen voran bedanke ich mich bei meinen zahlreichen Gesprächspartnern, die ich zwischen 2009 und 2012 in allen Teilen des Landes getroffen habe – besonders dafür, dass sie mir ihre Geschichten erzählt und mich vieles gelehrt
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