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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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entmündigt und abgespeist.
    Tafeln sind kein Schicksal, das von oben auf uns niederkommt. Es liegt an uns zu bestimmen, wie die Zukunft aussieht, was wir heute und morgen machen oder unterlassen. * Denn es gibt Alternativen. Nichts ist in Stein gemeißelt. * ­Tafeln sind keine soziale Utopie. Für uns sind Tafeln nichts ­anderes als gesellschaftlich arrangierte Bedürftigkeit. Durch Tafeln fühlen wir uns ausrangiert und deplatziert. Noch wird der schöne Schein aufrechterhalten. Aber hinter den Kulissen brodelt es. Nur auf den ersten Eindruck hin ist das alles gut und schön. Bei näherem Hinsehen bricht alles auseinander. *
    Und wir wünschen uns mehr soziale Gerechtigkeit. Denn gerade wir haben nichts gegen Belastungen. Sondern nur ­gegen die ungerechte Verteilung der Belastungen. * Aus unserer Perspektive ist die Entwicklung in unserem Land in vielen ­Bereichen unsozial. * Sozial wäre es, die Sozialsysteme zu stärken, anstatt die Tafeln immer weiter auszubauen. Sozial wäre es, reguläre Arbeitsplätze zu schaffen. Sozial wäre es, anständige Löhne zu bezahlen, so dass man davon leben kann. Sozial wäre es, wenn die Tafeln sich selbst überflüssig machen würden, anstatt nur davon zu reden. *
    Tafeln machen uns keinen Spaß. Wer geht schon freiwillig, aus Langeweile oder Spaß, zu einer Tafel? Niemand. * Deswegen sind wir erst froh, wenn wir aus der Mühle raus sind. * Wenn die dreiste Erniedrigung wegfällt. *
    Wir sind erst froh, wenn das vorbei ist. *

Die Gnade der kollektiven Selbsttäuschung
    Seit ich mit soziologischem Blick auf Tafeln, Suppenküchen und ähnliche Einrichtungen der Armutsökonomie schaue, wundere ich mich immer wieder darüber, wie viel Mühe wir uns geben, die damit verbundenen Kosten zu übersehen. Dahinter steckt ein Mechanismus, der erklärbar ist und den ich abschließend erläutern möchte. Denn genau das ist es, was wir letztlich doch noch von Tafeln lernen können: die Gnade der kollektiven Selbsttäuschung.
    Tafeln lenken ungewollt den Blick darauf, wie sehr wir geneigt sind, einen eigentlich unerträglichen gesellschaftlichen Zustand als neue Normalität hinzunehmen – vorausgesetzt, der Übergang findet nur schleichend genug statt. In der Forschung ist dieser Mechanismus als das Phänomen der ›Shifting Baselines‹ bekannt. 41
    Wir leben in einer »gleitenden Gegenwart«, in der wir nicht merken, wo Entwicklungen beginnen, die sich später als dramatisch erweisen. Das Konzept der ›Shifting Baselines‹ geht davon aus, dass sich unsere sozialen Orientierungsrahmen dauernd und in derart kleinen Schritten verändern, dass dies gar nicht mehr wahrgenommen wird. Selten merken wir, an welcher Stelle eine falsche Richtung eingeschlagen wird. Uwe Schneidewind, Direktor des Wuppertal Instituts (das sich prominent mit nachhaltiger Entwicklung beschäftigt), fasst es so zusammen: »Provokant formuliert beschreiben Shifting Baselines die herausragende Fähigkeit von Menschen, sich in so­zialen Kontexten immer wieder selbst zu täuschen.« 42 Da sich mit den Dingen auch unser Orientierungsrahmen für wirtschaftliches, politisches und soziales Handeln verändert, nehmen wir unsere soziale Umwelt in der Regel als »normal« oder »natürlich« wahr. »Insofern ist ein Vertrauen in die Stabilität von Werthaltungen sowie in Normalitäts- und Zivilisierungsstandards nicht angebracht«, so der Kulturwissenschaftler Harald Welzer. Weil sich Werthaltungen und Standards fle­xibel verhalten, kommt es immer wieder zu kollektiven Versäum­nissen, die langfristig Folgen nach sich ziehen. Verpasster Klimaschutz und die Finanzkrise sind dafür ebenso Bei­spiele wie die vergessene Armutsbekämpfung.
    Die Gründe, warum sich Orientierungsrahmen schleichend und meist unbemerkt verändern, sind hinlänglich bekannt. Einerseits werden Umstände und Rahmenbedingun­gen viel zu früh als nicht veränderbar – als Sachzwänge – hingenommen. Ein Beispiel dafür ist die Aussage, dass es keine Alternative zum Abbau von Sozialleistungen gäbe, weil diese nicht mehr zu finanzieren seien. In der Folge steigt die Ak­zeptanz von Vereinfachungs- und Entlastungsstrategien. Zweitens werden diese schleichenden Veränderungen in der Wahrnehmung sozialer Probleme und ihrer vermeintlichen Lösungen durch gruppendynamische Prozesse stabilisiert. Die eigene Wahrnehmung wird immer wieder mit der anderer, ähnlich denkender Personen abgeglichen. Menschen verlassen sich aufeinander, um Realität zu definieren,
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