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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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wir woanders Essen herbekommen. Den Tafeln sind wir wirklich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert! * Niemand kann vor Gericht ziehen und sagen: Ich habe ein Recht darauf. * Das steht uns nicht zu. Auf Tafeln kann man sich nicht verlassen, auf Rechte schon. * Das macht den Unterschied zwischen Almosen und Bürger­status. *
    Sozial ist etwas, auf das man Anspruch hat. Almosen sind, auch bei aller Freundlichkeit und Nettigkeit, gerade nicht sozial. *
    Die Zuteilung der Ware über den Thekentisch erfolgt ­anders. Du nimmst, was du kriegst, und hältst das Maul. * So läuft das. Man kann froh sein, wenn man die Ware kriegt. ­Meckern und Motzen sind bei Tafeln unerwünscht. Erst absahnen und dann noch einen Lauten machen, das ist nicht drin. * Wer motzt, fliegt raus. Da ist schon eine kleine Barriere dazwischen. Wir trauen uns nicht, nachzufragen. * Weil wir Angst haben, das wenige zu verlieren, das wir gerade gewonnen haben.
    Wir würden diese Regeln gerne ändern, fürchten uns aber vor den Konsequenzen. Uns bleibt das Wort im Hals stecken. Da kommt nichts mehr raus. * Wenn da Gespräche im Hof stattfinden, dann dreht sich jeder heimlich um und schaut, ob einer von den Tafelleuten zuhört. Man kommt sich überwacht und kontrolliert vor. * Wenn sich jemand kritisch äußert, wird ein Exempel statuiert. Niemand sagt: ›Nun lasst uns doch mal gemeinsam für unsere Rechte eintreten.‹ Niemand will den Vorreiter machen. Jeder wartet auf den anderen. Jeder wartet auf jemanden, der aufsteht und sagt, wir machen unsere ­eigene Sache. * Wir fragen uns, wo ein echter Anwalt der Armen auftaucht? * Da fehlt jemand, der sich wirklich durchsetzt! *
    Sicher, es gibt die Helfer, die ihr Bestes geben. Vielleicht ­haben sie auch einfach mehr Talent. Aber manche der Helfer, die können es einfach nicht. Und manche, die werden es nie lernen. Die denken, sie sind der Mitarbeiter, und wir, wir sind die kleinen Würstchen. * Für die lässt sich die Form der Begegnung in eine einfache Formel bringen: Du kriegst von mir ! *
    Bei Tafeln muss man schnell lernen. Die wichtigste Regel, die wir alle früher oder später verinnerlichen, ist die Regel der Dankbarkeit. An der richtigen Stelle demonstrativ gelächelt und ›Danke‹ gesagt, bringt mehr ein als alles andere. Man lernt, dass man für dieses Verhalten belohnt wird. Lächeln und ›Danke‹ an der richtigen Stelle. * Denn bei Tafeln erhält man Ware nicht einfach so. Sie kostet vor allem Dankbarkeit. Auf diese Form der Bezahlung können Tafeln nicht verzichten, denn sonst wäre niemand bereit, Tafeln zu betreiben. Dankbarkeit ist das Schwungrad, das die Tafeln in Bewegung hält. Immer wieder muss dieser Schwung erneuert werden: Danke schön, Danke schön, Danke schön … *
    Wer lernt, sich angepasst zu verhalten, der hat Erfolg. Wir merken schon, wie wir uns verhalten sollen. * Viele von den ganz armen Leuten trauen sich nicht zur Tafel. Die haben Hemmungen oder kommen nicht klar mit dem System, so wie es ist, mit dem Anstellen und dem ›Bitte‹ und ›Danke‹ sagen. * Da legen die sehr viel Wert darauf, die Ehrenamtlichen. * Und so verinnerlichen wir diese Regeln nach und nach und graben die Dankbarkeit immer tiefer in unser Innerstes ein, bis sie ein Teil von uns wird. Überall ist spürbar, dass es denen guttut, wenn wir uns immer wieder bedanken. Wenn wir die anlächeln. Wenn wir ihnen zeigen, dass wir uns wirklich freuen. * Wenn Helfer interviewt werden, steht in der Zeitung: ›Ach, das Lächeln, das ist der größte Dank für das, was ich hier mache.‹ * Was uns aber dieses Lächeln kostet, das fragt niemand.
    Der Nächste, bitte!
    Das alles erweckt nicht gerade den Eindruck, dass wir gleichberechtigte Mitbürger sind, auch wenn alle von ›Gästen‹ reden. Bei der Tafel müssen wir uns bewerben und werden dann als ›Kunde‹ angenommen. * Aber auf die Idee, sich ›Kunde‹ zu nennen, würden die wenigsten von uns kommen. Wir kennen arme Menschen, Bedürftige, aber keine ›Kunden‹. *
    Der Begriff ›Kunde‹ ist für uns Hochstapelei. Als ›Kunde‹ bezeichnen wir uns, wenn wir bei Aldi einkaufen. * Alle wollen sich so verhalten, als wären wir ›Kunden‹. Aber keiner kann es wirklich, weil es eben nicht der Wirklichkeit entspricht. * Es reicht nicht, einen Euro zu bezahlen, um sich als ›Kunde‹ zu fühlen. Das ist nicht alles. * Letztlich kann man den Begriff ›Kunde‹ auch so verstehen: ›Ja, wir verdienen an euch!‹ *
    Zur Tafel zu gehen, hat rein gar
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