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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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darauf, da hinzugehen und versorgt zu werden. Das ist die Lösung. Gewöhnung. Wie eine Allergie, die langsam vergeht. *
    Kleine Reserve
    Tafeln sind eine Notlinderung. Damit wir uns das Essen nicht im Papierkorb suchen müssen. Wir kriegen doch woanders nichts her. * Dennoch gehen die meisten nur zur Tafel, wenn es wirklich notwendig ist. Dort geht nur jemand hin, der es in irgendeiner Weise braucht. *
    Wir sind meist arbeitslos. Da können wir alles gebrauchen. * Es gibt also keinen anderen Grund, zur Tafel zu gehen, als zu sparen. * Wir gehen da rein, weil es günstig ist. * Um Kohle zu sparen. * Wir wollen keine Lebensmittel retten. Wir sparen uns durch. Das merken wir dann jeden Monat, vom Geld her. * Denn Lebensmittel sind der Posten im Haushalt, der das größte Loch reinreißt. * Zur Tafel zu gehen ist für viele an­gewandte Cleverness. * Damit wir ein bisschen Luft haben für andere Dinge. * Um sich mal was gönnen zu können. * Kleinigkeiten. Luxus kann man das ja nicht nennen. * Aber was sich wirklich ändert, ist dann doch weniger spektakulär. Wir ­müssen am Ende des Monats nicht nur Nudeln essen. Das hat sich geändert. * Es rechnet sich, aber das Selbstwertgefühl ­leidet. Wenn es die Tafeln nicht mehr gäbe, dann müssten die Leute eben einkaufen gehen und das an anderer Stelle einsparen. * Das Einzige, was Tafeln uns bringen, ist eine kleine Reserve. *
    Durch diese Reserve erweitern sich unsere Spielräume ein klein wenig. Wir können uns etwas leisten. Vereinsmitgliedschaften oder die kleinen Dinge des Lebens. Vor allem aber denken wir an unsere Kinder. * Kinder wollen mal Karussell fahren. Kinder wollen mal auf einen Minigolfplatz. * Kinder wollen an Schulausflügen teilnehmen. * Tafeln sind gut für die, die am Minimum leben und sich dennoch etwas leisten wollen. *
    Aber geht das nicht auch anders? Es muss in einem Sozialstaat doch andere Wege geben, um solche Dinge zu ermög­lichen. *
    Entsorgte Gemeinschaft
    Tafeln sind keine entspannten Orte, sondern Orte, an denen wir uns als arme Sau fühlen. * Unser Gang zur Tafel ist rein ökonomisch begründet. Wir kommen, stehen mal kürzer oder länger an, packen ein, sagen hier und da ›Hallo‹ und gehen wieder. * Das Interesse an anderen ist begrenzt. Absichtlich lernen wir kaum Leute kennen. * Wir suchen auch keine festen Kontakte, nicht durch Tafeln. * Schon gar nicht treffen wir uns planmäßig außerhalb der Tafel mit anderen. *
    Auf den ersten Blick könnte es allerdings anders aussehen. Wir unterhalten uns mit netten Leuten. * Wir staunen, was für Biographien die anderen haben. * Aber letztlich unter­halten wir uns nur über belanglose Sachen. * Weil wir keine Nähe suchen zu diesen Leuten. Manche ziehen sich auch total zurück, erzählen überhaupt nichts. * Und bei der Ausgabe ist auch keine Zeit da, um miteinander zu quatschen. *
    So bleiben wir auf Distanz. Ein bescheidener Versuch, noch ein Stückchen Normalität zu retten. Wir akzeptieren die anderen so gut es geht. Wir alle gehen da hin, weil es uns schlechtgeht. * Bei Tafeln lernt man andere Menschen kennen, denen es ähnlich geht. Man erlebt, wie man gemeinsam ausgegrenzt ist. * Aber gemeinsam ausgegrenzt zu sein, das schafft noch lange keine eingeschworene Gemeinschaft. * Auf diese Weise entsteht kein Wir-Gefühl. *
    Grüppchen bilden sich trotzdem. Für viele ist die Tafel ein Treffpunkt. * Man trifft sich einmal pro Woche, jeder erzählt ein bisschen. * Meist ergibt sich das einfach so. Wir schwätzen, und dann fährt jeder wieder nach Hause. Dann sagen wir: ›Bis zum nächsten Mal.‹ * Wenn wir schon lange zu einer Tafel ­gehen, lernen wir auch Menschen kennen, die uns helfen. * Ein kleiner Hauch von Solidarität weht dann hindurch, schon weil wir wissen, dass es für viele andere auch nicht reicht. * Manchmal bilden wir sogar Gruppen und geben uns ironische Namen, die überspielen, um was es bei Tafeln eigentlich geht. Wir nennen uns ›Die 1-Euro-Esser‹ oder ›Klub der Sonder­baren‹. * Für wenige ist es ein Wir-Gefühl, für einige ein Wohlgefühl, für die meisten ein Schamgefühl. Nicht: Ich kam, sah und siegte. Sondern: Ich komme, hole ab und gehe. * In diesem Klub richten wir uns ein. Es entsteht eine eigene Welt drinnen, bei den Tafeln.
    In der Welt da draußen sind wir zum Wirtschaftsfaktor geworden. * Das ist die Grundlage für Diskriminierung und Ausgrenzung. * Und die Tafeln haben ihren Platz in einem System, in dem die weniger Leistungsfähigen die
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