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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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seinen Rücken mit der Aufbauanleitung für ein Regal vergleichen. Noch nach all den Jahren scheint vor allem eines durch: Glück gehabt. Nie wurde mir deutlicher, wie dehnbar die Idee von Glück ist, der wir fast alle hinterherjagen. Mein Gesprächspartner ist schon mit wenig zufrieden: »Wenn ich morgens aufwache und kann die Augen noch aufmachen und mich ­einigermaßen bewegen, dann ist das wie Weihnachten.«
    Es folgt ein Schnelldurchlauf durch die Biographie bis zum Rentenalter. Jede Menge entwürdigende Bürokratie, an deren Ende die sogenannte Grundsicherung stand. Ein nett daherkommendes Wort, das verbirgt, was es für die betroffenen Menschen oftmals bedeutet: Armut. Das Drama seines Lebens lässt sich in wenigen Minuten erzählen. Seine Frau sitzt stumm daneben und raucht unentwegt. Sie hat einen Herzfehler und ist ebenfalls gehbehindert. »Ach, ich habe alles Mögliche«, sagt sie leise, fast zu sich selbst.
    In dieses Leben trat die Tafel, weil die Grundsicherung für beide zum Leben nicht reichte. Weil beide Abzüge in Kauf nehmen müssen, da sie als Paar zusammenwohnen. Die Tafel kam per Post in ihr gemeinsames Leben, in einem Schreiben der Stadt, als nett gemeinter Hinweis. Zur Sicherheit gleich mit Berechtigungsschein, damit dem netten Tipp bald auch Taten folgen. Das war vor etlichen Jahren … Die Tafel ist seitdem ein fester und nicht mehr wegzudenkender Bestandteil ihres Alltags geworden. »Die Bescheinigung hatte einen Stempel mit allem Drum und Dran. Darauf stand, dass wir berechtigt sind, zur Tafel zu gehen.« Sie betont das Wort berechtigt , als wäre dies ein offizieller Segen von oben. »Seitdem sind wir ­jeden Dienstag dort.«
    Einfach war dieser Gang nicht. Aber in einer Welt, in der die üblichen Wege sich zwischen Küche und Bad erschöpfen und in der die im Übermaß vorhandene Zeit mit dem Lösen von Kreuzworträtseln gebändigt wird, ist dieser Gang, egal wie mühevoll er sich gestaltet, vor allem ein Fluchtpunkt aus der Tristesse. Am »Tafeltag« kommen sie beide raus. Es ist wie das Aufblitzen eines jugendlichen Akts der Eroberung. Am ­»Tafeltag« trauen sie sich auf die Straße, die sie sonst aufgrund ihrer Gehbehinderungen möglichst meiden. Mit Krücken und Rollator steuern sie gemeinsam ihrem Ziel entgegen. »Rumsitzen ist tödlich«, sagt er. »Es geht darum, dass man unter Leute kommt, dass man sich unterhalten kann«, ergänzt sie. »Und die Krönung ist ja, dass man für zwei oder drei Tage ­etwas mitbekommt.« Sie fühlen sich wohl bei der Tafel, für sie scheint alles zu passen. »Da sind wir Mensch.«
    Um sich als Mensch unter Menschen zu fühlen, treffen sich meine Gesprächspartner zudem einmal pro Woche mit drei befreundeten Paaren auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen in einem nahe gelegenen Bistro. Das fühlt sich an wie tafeln ohne Tafel. Die Tischgenossen im Bistro ahnen jedoch nichts davon, dass ihre Bekannten zur Tafel gehen. Niemand ahnt etwas davon. »Das behalten wir für uns. Hier im Haus weiß das keiner. Sonst weiß es keiner. Man wird schief angeguckt, selbst wenn es den Leuten in einem halben Jahr auch so gehen kann. Also behalten wir das im Endeffekt für uns. Das ist unsere Sache, das geht keinen was an. Die Leute kennen uns. Und wenn wir jetzt plötzlich sagen: Wir gehen zur Tafel, dann lachen die uns aus. Da werden wir schief angeguckt. Da sind viele Leute dabei, die würden uns fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Also halten wir den Mund. Das geht keinen was an.« Die Tafeln sind das Glasdach, durch das die beiden gemeinsam fallen. Es bremst ihren gesellschaftlichen Sturz, es verletzt sie aber zugleich an empfindlicher Stelle.
    Wer einen derart markanten Grundbaustein seiner Existenz so konsequent verschweigt (oder meint, ihn verschweigen zu müssen), der liegt im Dauerkonflikt mit der eigenen Gesellschaft und dem eigenen Selbstbild. Die beiden haben diesen Kampf inzwischen aufgegeben. »Wir waren ein Teil der Gesellschaft, aber Vater Staat hat uns dermaßen verlassen, er hat uns richtiggehend nach unten gearbeitet. Wir sind regelrecht ausgestoßen. Wenn das so weitergeht, sinken wir noch tiefer«, fasst der Mann zusammen. »Ja, wir sind Ausgestoßene!«, fügt seine Frau genervt hinzu, »wer hilft uns denn?« – »Keiner«, antwortet er nun wieder, »die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, so ist das, auf den Punkt genau. Die hohen Herren stecken sich die Taschen voll. Wir, die Kleinen, müssen die Zeche bezahlen.
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