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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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Wir müssen mit den Resten zufrieden sein.«
    Ihr fassungsloser Protest verhallt in der häuslichen Plüschwelt. Die Frage, wie der (noch) existierende Sozialstaat so eine Existenz zulassen kann, führt zu einer bedrückenden Forderung: »Es müsste noch mal einen kleinen Hitler geben. Ja, so ein kleiner Adolf. Dann gäbe es heute nicht so viele ­Arbeitslose, dann würde wieder was getan. Dann würden sich viele nicht mehr so überflüssig vorkommen.« In diesem Moment verliere ich den Kontakt zu meinem Gesprächspartner, der sich in seinen immer größer werdenden Hass hinein­steigert. Immer wieder klagt er den überall sichtbaren Egoismus an, klopft sich wie zur Bestätigung mit den Fäusten auf den Brustkorb, ruft: » ICH !! ICH !! ICH !!« und setzt große Ausrufezeichen in die Luft. Er wird immer lauter, bis ihn seine Frau am Arm fasst und erfolglos versucht, ihn zu beruhigen.
    Noch im Aufzug klingen die Anklagen gegen schwule Politiker, faule Ausländer und gierige Banker nach. Zusammen bilden sie in meinem Kopf das Echo der totalen Resignation: »Der Hass wird immer größer.«

Seltenes Glück
    Ich übernachte in einem äußerst skurrilen Hotel. Sofort habe ich das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Der Portier überwacht seine Gäste mit aufdringlicher Höflichkeit, die fast schon wie ein einstudierter Racheakt wirkt. Mit seinem massigen Körper sitzt er in einer Art Glaskasten, den Frühstücksraum im Blick wie ein Fluglotse seinen Radarschirm. Von seinem Drehstuhl aus mischt er sich in das Geschehen ein und gibt Anweisungen: »Müssen Sie probieren, die Wurst, die ist echt gut!« Und in eigener Sache: »Ist doch fünf Euro wert, das Frühstück, oder?« Nach dem etwas verkrampften Frühstück mache ich mich auf den Weg zu einem Treffen am anderen Ende der Stadt. Diese Begegnung sticht auch nach langer Zeit noch klar aus der Menge aller Gespräche heraus.
    Meine Gesprächspartnerin ist 40, sieht allerdings sehr viel älter aus. Ich würde das allein aus Höflichkeit nie berichten, aber sie erwähnt es selbst in einem ihrer ersten Sätze. Sie ist chronisch krank. »Ich bekomme eine neue Niere«, erklärt sie, »dreimal pro Woche muss ich für vier Stunden zur Dialyse. Weil ich sonst sterbe. Ich bin aus gesundheitlichen Gründen da reingerutscht. Ich habe immer gearbeitet, bis ich nicht mehr konnte. Und jetzt bin ich eigentlich immer krank. Ich habe alles mitgemacht, was man mitmachen kann.« Inzwischen erhält sie Grundsicherung. »Ich stehe dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung« – das ist ihre Art, das eigene Leben zu bilanzieren. Ein sonderbar bitterer Stolz schwingt in dieser Aussage mit. Es fällt ihr leichter, dieses abschließende Urteil zu akzeptieren als die Vorhaltungen ihrer Mitmenschen. »Man sagt, ich bin faul und mache immer nur auf Krank­heit.«
    Ich aber sitze einer Frau gegenüber, die inmitten einer mehr als dramatischen Lebenssituation so etwas wie einen Neuanfang zelebriert. Ihre neue Wohnung befindet sich in ­einem gepflegten Haus. Ihr ganzer Stolz ist der winzige Balkon. Für sie bedeuten diese zwei Quadratmeter puren Luxus. »Ich bin umgezogen, weil kein Schwein mehr was mit mir zu tun haben wollte«, erzählt sie. Verglichen mit dem Leben, das hinter ihr liegt, erlebt sie nun die große Freiheit. Mit ihren flippigen Tapeten wirkt die Wohnung freundlich. Eine schwarze Katze schleicht zwischen meinen Beinen herum und lässt sich erfolglos ›Mausi‹ rufen. Der Beginn eines besseren Lebens?
    »Die schöne Fassade täuscht!« Mit dieser Aussage holt mich meine Gesprächspartnerin in die Realität zurück. Sie meint damit nicht allein die aufgeräumte Wohnung. Sie spricht, ohne dass ich danach gefragt hätte, vom Chaos in ihr selbst, von ihren Ängsten, die sie sich nicht ansehen lässt. Irgendwie fasst sie Vertrauen zu mir, das Treffen dauert deshalb auch sehr lange. Sie erzählt vom »übriggebliebenen Leben«, von Krankheit und Sehnsüchten. Hinter einer steinharten Fassade blitzt eine schwache Seele auf.
    Sie erinnert sich daran, wie an einem Tiefpunkt vor fünf oder sechs Jahren ihre Hassliebe zur Tafel begann: »Ich war praktisch gezwungen. Ich habe manchmal drei Tage lang nichts zu essen gehabt. Anfangs war das nicht so schön. Ich habe mich so was von geschämt, da hinzugehen. Weil man so abgestempelt wird.« Bei der Tafel war es nicht einfach, das macht sie im Gespräch nach und nach deutlich. Zunächst das Übliche: Bedürftigkeitsprüfung, Berechtigungskarte,
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