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Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska

Titel: Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Autoren: Martina André
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Kindes allein zurechtkommen würde. Sie trug einen verwaschenen Jogginganzug und sah bei näherer Betrachtung reichlich verwahrlost aus. Das dunkelblonde, halblange Haar hing ihr in Strähnen ins bleiche Gesicht, und sie schien abgemagert zu sein. Mit einem ermutigenden Lächeln half die Hebamme Viktoria, sich auszuziehen. Dann ging sie hinaus und kehrte wenig später mit einem transportablen Wehenschreiber zurück.
    »Die Geburt ist schon fortgeschritten« bemerkte sie nachdenklich und untersuchte anschließend den Muttermund. »Fünf Zentimeter«, bemerkte sie knapp. »Ich lasse Ihnen eine Wanne mit warmem Wasser ein.«
    Ohne Viktorias Antwort abzuwarten, verschwand sie im Badezimmer. Ajaci hatte sich dicht neben Viktoria gelegt und sah sie treuherzig an. Er schien zu spüren, dass sie nicht nur gegen die starken Wehen kämpfte.
    »Mir geht es nicht gut«, hauchte Viktoria, als sie mit Hilfe der Hebamme in das heiße Wasser glitt. Plötzlich drehte sich alles um sie, und zu den Schmerzen im Bauch kam eine beklemmende Atemnot. Dann wurde es kalt und dunkel, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Von ferne rief jemand ihren Namen. »Frau Vanderberg?«
    Eine entspannte Gleichgültigkeit nahm von ihrer Seele Besitz, und |486| sie spürte das angenehme Gefühl zu schweben. Von oben konnte sie sehen, wie die Hebamme sich bemühte, ihren Körper aus der Wanne zu hieven, was ihr aber nicht gelang. Schließlich griff die Frau in größter Hektik zum Telefon.
    »Schicken Sie sofort einen Notarztwagen«, erklärte sie mit schriller Stimme und nannte Straße und Hausnummer. Nichtssagende Worte, wie Viktoria befand. Eine helle gleißende Straße lud sie ein, in eine vollkommen andere Richtung zu gehen, und dann sah sie ihn. Er stand am Eingang, umrahmt von diesem hellen Licht, gerade so, wie er ihr in unzähligen Visionen begegnet war. Groß, muskulös und mit verschränkten Armen versperrte er ihr den Zugang zu einem leuchtenden Tor. Er lächelte, und dass er es wirklich war, erkannte sie nicht nur an seinen Augen, sondern auch an dem lackschwarzen, schulterlangen Haar.
    Leonid! Eine unglaubliche Liebe durchflutete sie. Wie kommst du hierher? Diese stumme Frage war vollkommen überflüssig – sie war tot, und er war bei ihr. Doch anstatt mit ihr hinüberzugleiten, hielt er sie auf und umarmte sie fest, bis sie mit ihm in sengender Hitze verschmolz. Ihr Ich löste sich auf, eine samtene Dunkelheit hüllte sie ein.
    »Frau Vanderberg? Frau Vanderberg!« Jemand klatschte ihr ins Gesicht.
    »Sie kommt zurück«, sagte eine männliche Stimme.
    »Frau Vanderberg.« Eine andere Stimme mischte sich ein – weiblich und unangenehm laut. »Wir haben Sie soeben von einem gesunden Jungen entbunden. Wollen Sie ihn sehen?«
    Eine junge Frau hielt ihr ein schreiendes Bündel hin. Es hatte schräg stehende dunkle Augen und pechschwarzes Haar. Ein Lächeln huschte über Viktorias Lippen, gepaart mit einem bittersüßen Schmerz. Das Kind lag warm und schwer auf ihrem Bauch. Ein Arzt versorgte sie mit Sauerstoff, und eine Krankenschwester half dem Kind an die Brust. Der Saugreflex war außerordentlich stark und holte Viktoria augenblicklich in die Wirklichkeit zurück.
    »Alles ist bestens«, versicherte ihr die Hebamme. »Sie sind im Elisabeth-Krankenhaus. Wir mussten Sie hierhin bringen. Akutes Kreislaufversagen. Aber es ist noch mal gut gegangen. Wie durch ein Wunder sind Sie zu uns zurückgekommen.«
    »Ich habe im Traum einen Mann gesehen«, flüsterte Viktoria. »Er |487| hat mich aufgehalten. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich noch nicht einmal an das Kind gedacht.«
    »Wenn er nicht gewesen wäre, lägen Sie jetzt nicht hier.« Die Hebamme lächelte unsicher. »Noch bevor Krankenwagen und Notarzt eintreffen konnten, stand er plötzlich in der Tür und hat sie wiederbelebt. Jetzt sitzt er draußen auf dem Flur, zusammen mit ihrem Hund. Möchten Sie, dass wir ihn hereinlassen?«
    Viktoria nickte. Immer noch glaubte sie zu träumen, und als sich die Tür zum Entbindungszimmer öffnete, fühlte sie sich erst recht am Rande einer anderen Wirklichkeit.
    »Leonid …« Mehr als ein ersticktes Flüstern brachte sie nicht zustande. Wie ein Berg stand er da und starrte sie an. Sein bärtiges Gesicht war regungslos. Nur die grauen Augen schimmerten feucht. Erst als er sich zu ihr hinunterbeugte und sie ganz zart küsste und dann mit fassungsloser Miene über den schwarzen Schopf seines winzigen Sohnes strich, wusste sie, dass er keine
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