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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten
Autoren: Oliver Buslau
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in einem der niedrigen Sessel nieder. Wie zufällig bekam Mike einen Blick auf ihre langen Beine geboten. Er improvisierte weiter, ohne groß nachzudenken.
    Irgendwann stand die Frau wieder auf. Diesmal hatte sie ihre Handtasche dabei. Sie holte einen Fünfzig-Euro-Schein heraus und legte ihn aufs Klavier. Wie auf Kommando setzte Mike einen Kontrast und spielte etwas leiser.
    »Ganz schön lang, dein Stück. Wenn du fertig bist, sehen wir uns, ja?« Damit stöckelte sie hinaus. Leicht schwankend.
    Mike führte die rechte Hand in eine Kadenz und ließ sie pausieren. Der Bass rollte einen Moment solo weiter. Die Stelle gab ihm Gelegenheit, auf die Armbanduhr zu sehen. Kurz nach halb drei. Feierabend.
    Er verpasste dem Stück ein effektvolles Ende mit einem gigantischen Ritardando. Dann griff er nach dem Geldschein, steckte ihn ein und fuhr nach Hause.
     
    In Mikes Wohnung in der Kampstraße im Düsseldorfer Stadtteil Wersten waren die Wände von Wohn- und Schlafzimmer mit Regalen zugebaut, in denen sich wenige Bücher und unzählige CDs drängten. Im Wohnzimmer gab es keine Sitzgelegenheit, dafür einen Stutzflügel, der praktisch den ganzen Raum ausfüllte.
    Mike ging ins Bad und ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen. Im Wohnzimmer stand er eine Zeit lang unschlüssig vor dem Regal, dann entschied er sich für Chopin.
    Wenige Sekunden später erfüllte Musik die Wohnung – ein wuchtiger, düsterer Marsch in dickem Streicherklang. Mike zog sich aus, hängte seinen weißen Anzug auf einen Bügel und zog seinen Bademantel über. Auf einem kleinen Beistelltischchen neben dem Flügel lag eine Packung Zigarillos. Er zündete sich einen an, setzte sich auf den Klavierhocker und blies ein paar Ringe in die Luft. Zögernd tastete er über das Notenpapier, das auf dem Notenhalter stand. In der ersten Zeile hatte er etwas notiert, doch schon nach wenigen Zentimetern brachen die Notenköpfe ab. Er zog wieder am Zigarillo und sah versonnen vor sich hin. Im E-Moll-Klavierkonzert von Chopin hatte mittlerweile das ruhige Nebenthema begonnen.
    Mike blickte zur Decke und dirigierte leicht mit der linken Hand mit. Er runzelte die Stirn, als die Musik wieder leidenschaftlicher wurde. Bläser und Streicher konnten sich nicht so recht entscheiden, wer den Vortritt haben sollte, dann verlangsamte sich das Stück, die Bässe raunten, und Mike nickte beifällig, denn jetzt kam sie: Martha Argerich am Soloklavier. Warmer, aber fester Klavierklang. Nicht zu inszeniert, nicht kitschig, aber ein bravouröser Auftritt. Dieser Moment begeisterte ihn immer wieder.
    Mike hörte noch eine Weile zu und rauchte den Zigarillo zu Ende. Im Bad war das Wasser eingelaufen. Er verteilte Armani-Badezusatz, zog den Bademantel aus und ließ sich in das warme Wasser gleiten. Auch hier gab es Lautsprecher, auch hier war Chopins Konzert zu hören. Mike ließ die CD bis zum Ende laufen, stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Wieder im Bademantel, ging er zurück zum Klavier.
    In der Wohnung war es jetzt vollkommen still. Mike ließ seine Finger über die glatten Tasten gleiten und fühlte die Rillen dazwischen. Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
    Mit beiden Händen spielte er das Thema, über das er im Hotel am Schluss improvisiert hatte. Diesmal legte Mike das Thema in den Bass und erfand einen neuen Diskant darüber. Er versuchte, etwas in der Tenorlage dazwischenzuschieben, und in seiner Phantasie wurden daraus machtvolle Hörnereinsätze, die Oberstimme verwandelte sich in glänzende Streicher. Er brach das Ganze in perlende Läufe auf und machte eine Generalpause, um neu anzusetzen. »Lovely Lady« war gar kein schlechter Titel. Vielleicht wurde ja doch ein Stück daraus.
    In diesem Moment erklang ein energisches Klopfen. Wie eine Kette von aggressiven Hammerschlägen.
    Mike griff zum Notenpapier. Er ließ den Bleistift über die fünfzeiligen Systeme schweben und schrieb ein paar Noten hin.
    Die Armbanduhr zeigte kurz vor vier. Er stand auf. Sein Blick wurde abgelenkt. Das rote Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Das Display zeigte die Zahl »1«.
    *
    Er hört Miss Soundso, die mit dem Staubsauger im Wohnzimmer beschäftigt ist. Er trinkt die Tasse leer, lässt den zweiten Toast liegen und geht hinüber. Der Krach quält ihn. Er schaut eine Weile zu, wie Miss Soundso in gebückter Haltung die Teppiche absaugt. Sie hat ihn nicht bemerkt. Als er in Richtung Terrassentür geht, muss er über das Elektrokabel steigen.
    Auf der Terrasse
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