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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten
Autoren: Oliver Buslau
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Klettersperre.«
    »Nächstes Jahr sind wir achtzehn. Dann können wir machen, was wir wollen.« Mike legte eine Hand auf Carolas Schulter.
    Sie wehrte seine Berührung ab. »Du guckst zu viele Krimis.«
    »Man muss seine Chancen erkennen und ergreifen. Das sagst du selbst immer.«
    »Quatsch. So meine ich das nicht.«
    Mike hörte ein schnaufendes Geräusch. Weinte sie? Das hatte er noch nie erlebt.
    »Ich kümmere mich darum«, sagte er. »Du brauchst deinem Vater gar nichts zu sagen. Ich behaupte einfach, ich wäre allein da gewesen.«
    »Und dann?«
    »Dann hebe ich das Geld auf, und wenn wir achtzehn sind, teilen wir.«
    »Ich weiß nicht …«
    »Das kann die Chance unseres Lebens sein.«
    »Aber da ist ein Mord passiert.«
    »Es hilft doch niemandem mehr, wenn wir den Koffer dalassen. Wir könnten es uns doch wenigstens mal angucken.«
    »Ist das wirklich dein Ernst?«
    »Na klar.«
    Sie stand auf.
    »Was ist los?«
    »Mach, was du willst«, sagte sie. »Ich gehe nach Hause.«
    »In der einzigen Nacht weit und breit, in der du sturmfreie Bude hast? Komm schon, das kannst du doch nicht machen!«
    »Lass mich.«
    »Jetzt hör doch auf. Wir können morgen lange schlafen. Wir haben doch erst nachmittags was.«
    »Mach’s gut. Und ich rate dir – zu keinem ein Wort. Lass das Geld, wo es ist.« Die Büsche knisterten, als sie sich den Rückweg bahnte.
    »Das ist meine Sache«, sagte er.
    Doch da war Carola schon weg.
     
    Mike blieb noch lange sitzen – von seinen Gedanken hin- und hergerissen. Was für Scheine waren das gewesen? Hundert-Dollar-Noten? Tausend-Dollar-Noten? Er wusste es nicht mehr. Alles war so schnell gegangen.
    Auf jeden Fall musste es eine Menge Kohle sein.
    Er starrte in die Nacht. Irgendwann fröstelte ihn. Dann war sein Entschluss gefasst. Er würde seine Chance ergreifen. Er würde das Geld holen und irgendwo verstecken. Und er würde es Carola zeigen. Wenn sie mal wieder über ihren Vater jammerte, würde er sie aus all ihrem Schlamassel erlösen, indem er die Dollars so ganz nebenbei aus einem Versteck hervorzauberte.
    Wo würde er das Geld deponieren? In einem Bankschließfach vielleicht. Nein, das ging nicht. Um so was zu mieten, musste man sicher achtzehn sein. Ach Quatsch, er konnte es irgendwo in seinem Zimmer lassen. Das war nicht weiter schwierig. Und wenn er erst volljährig war …
    Es war ganz einfach.
    Er ging zurück zu seinem Mokick und fuhr hinunter. Als er an Carolas Haus am Burgweg vorbeikam, bemerkte er Licht. Sie war sauer, aber das würde sich ändern.
    An der Gülser Brücke angekommen, peilte er erst einmal die Lage, bevor er neben dem Geländer unter dem ersten Brückenbogen verschwand. Niemand war auf der Straße. Die Busse fuhren längst nicht mehr.
    Er nahm die Taschenlampe und ging zu der Stelle, wo sie den Koffer abgelegt hatten. Er bemühte sich, die Leiche, die ein paar Meter weiter im Wasser lag, nicht ins Blickfeld zu bekommen. Vielleicht war sie auch schon weggetrieben worden. Gar nicht darüber nachdenken, sagte er sich.
    Er fand den Stamm der jungen Weide. Hier war die richtige Stelle. Er suchte mindestens zwanzig Minuten, aber es war zwecklos.
    Der Koffer war verschwunden.

 
     
2003

1
    Der alte Mann erwacht. Das Bettzeug ist feucht von Schweiß. Es liegt klamm auf seiner Haut.
    Plötzlich dringt ein Geräusch aus der Wohnung. Miss Soundso kommt herein. Die Frau, deren Namen er sich nicht merken kann. Sie geht durchs Zimmer, öffnet das Fenster, bleibt stehen und lächelt ihn an. Er bewegt noch nicht einmal die Augen. Kein Blinzeln.
    Jetzt wünscht sie ihm einen guten Morgen. Er sieht ihre leuchtend weißen Zähne, bräunliche Haut, schwarzes, festes Haar. Die Frau geht wieder hinaus, und er muss an seine Tochter denken. Sie hat ihn gezwungen, diese Frau ins Haus zu lassen. Das Schlimmste war, dass seine Tochter ihr den Schlüssel gegeben hat. Jetzt wird er stundenlang mit Miss Soundso allein sein.
    Er versucht sich vorzustellen, wie es ist, wenn man stirbt. Es gelingt ihm nicht. Er liegt so reglos wie möglich da und stellt sich vor, er hätte sich in eine Leiche verwandelt und seine Seele hätte den Körper verlassen, sei davongeschwebt, irgendwohin.
    Er lauscht. Miss Soundso rumort irgendwo nebenan. Er hört ihre Stimme. Sie singt. Er hängt seinen Gedanken nach. Plötzlich ist die Frau wieder da. Der Teppich muss ihre Schritte gedämpft haben.
    Er starrt sie an. Er sieht ihrem Gesicht an, dass sie unsicher wird. Der Ausdruck wird ernst,
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