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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten
Autoren: Oliver Buslau
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empfangen ihn die beiden steinernen Löwen, die an der gewaltigen Balustrade stehen. Gemächlich geht der alte Mann die breite Treppe zum Park hinunter. Der blaue Himmel spiegelt sich im See. Ein paar Enten sitzen im Gras.
    Der alte Mann kehrt ins Haus zurück. Miss Soundso hat sich aus dem Wohnzimmer verzogen. Jetzt hat er wenigstens hier seine Ruhe. Neben Bücherregalen öffnet sich ein Erker, in dem ein wuchtiger Schreibtisch Platz hat. Die Holzfläche ist bis auf ein Notebook leer.
    Der alte Mann setzt sich hinter den Schreibtisch, klappt das Laptop auf und drückt auf den Startknopf. Dass er in seinem Alter damit umgehen kann, hat ihm schon viel Bewunderung eingebracht. Der alte Mann erinnert sich jedes Mal daran, wenn er morgens an den Computer geht.
    Mit ein paar Mausklicks öffnet er das E-Mail-Programm. Er hat lange keine Nachrichten mehr bekommen.
    Während sich der Rechner einloggt, lässt der alte Mann den Blick aus dem Fenster schweifen. Am Ende des Parks stehen riesige alte Bäume; daneben schlängelt sich die Zufahrt zum Haus. Das hier ist sein Lieblingsplatz. Er sieht jeden, der sich dem Haus nähert.
    Er blickt wieder auf den Bildschirm. In diesem Moment ertönt ein Klang, der einer leisen Glocke ähnelt. Es kommt aus dem Computer.
    Eine Mail wartet auf ihn.
    *
    »Hier ist Carola Zerwas. Ich nehme an, du erinnerst dich an mich. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Ich bin in Koblenz. Bitte ruf mich zurück.«
    Es folgte eine Telefonnummer mit der Koblenzer Vorwahl 0261, die Mike sofort in Musik übersetzte. Alles zusammen – die Nummer und die Melodie, die daraus entstand – kam ihm vage bekannt vor. Die Stimme machte eine kurze Pause. Dann folgte noch: »Es ist sehr dringend.«
    Mike ging zum Klavier. Seine Finger wanderten über die Tastatur, und es drängte ihn, die Melodie von Carolas Telefonnummer zu spielen, aber er hatte keine Lust, noch mehr Ärger mit dem Typen, der über ihm wohnte, zu bekommen.
    Wie lange war das jetzt her? Zwanzig Jahre? Nein, einundzwanzig. Mike kamen Bilder in den Sinn. Die blonde Carola, ihre Kletterei. Die Nacht am Deutschen Eck. Erinnerungen an ein anderes Leben. Aber es war sein Leben gewesen. Irgendwo in ihm rührte sich ein schmerzliches Gefühl. Ein Gefühl, das man hat, wenn ein Kapitel noch nicht abgeschlossen ist …
    Das Erlebnis am Deutschen Eck hatte ihn am Anfang geradezu verfolgt, doch dann hatten sich andere, schwerwiegendere Ereignisse darüber gelegt, waren wichtiger geworden. Heute war die Erinnerung an das Abenteuer verblasst wie eine alte Fotografie.
    Wie war das noch gewesen?
    Mike hatte Carola nach dem Erlebnis an der Gülser Brücke kaum noch gesehen. Die Sache hatte sie auseinander gebracht. Dann hatten die Ferien angefangen …
    Und dann?
    Im neuen Schuljahr war Carola nicht mehr in die Schule zurückgekehrt. Irgendetwas war passiert. Mike dachte nach. Ein Unfall …
    Warum sie wohl anrief? Gab es vielleicht ein Schultreffen? Nein. Abiturienten trafen sich, und das Abitur hatte er nicht bestanden. Für ihn würde es nie ein Abschlusstreffen geben.
    Mike quetschte sich am Flügel vorbei und zog ganz unten im Regal eine Schublade heraus. Er kramte eine Weile und förderte beschriebenes Notenpapier zutage. Damals hatte er wirklich eine Masse Zeug geschrieben – allerdings nichts vollendet, es waren immer nur Skizzen geblieben. Dafür hatte er jedes Blatt oben rechts ordentlich datiert. Er stieß auf einen ganzen Stapel, der sich in einer Mappe befand. Die Daten lauteten Januar 1982, März 1982, dann ein paar Sachen aus dem April.
    Mike nahm den Stapel, schob auf dem Flügel ein paar Stöße gedruckter Notenbände beiseite, legte die Blätter auf den frei gewordenen Platz und sah sich an, was ihm damals so eingefallen war.
    Dann saß er wieder auf dem Klavierhocker, einen neuen Zigarillo im Mund. Irgendwann bemerkte er, dass es hell geworden war.
    Er legte die Noten weg und holte tief Luft. Ein paar Sekunden lang ließ er die Hände über der Tastatur schweben und lauschte auf die Stille. Dann donnerte er in äußerster Lautstärke eine wütende Fanfare in die Tastatur. Er trat das Pedal, bis sich der Klang verflüchtigt hatte.
    Oben blieb es still.

2
    Als Mike am nächsten Tag Carolas Nummer ins Telefon tippte und das regelmäßige Tuten des Ruftons hörte, ergriff ihn plötzlich Nervosität. Er fragte sich, was er tun würde, wenn sich Herr Dr. Anton Zerwas melden würde – Carolas Vater, mit dem er damals so sehr auf Kriegsfuß gestanden
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