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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten
Autoren: Oliver Buslau
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der Kletterei möglichst wenig zu sprechen, damit niemand aufmerksam wurde. Vielleicht gab es ja ein paar Spaziergänger, die es jetzt noch an die Moselmündung trieb. Manchmal hielten sich hier auch Penner auf. Aber von denen war nichts zu sehen. Vielleicht war es jetzt, Ende April, noch zu kalt.
    Mike legte den Gurt an, wie Carola es ihm gezeigt hatte, und zog zweimal am Seil. Das war das Signal. Sofort straffte es sich, und er musste sehen, dass er hinaufkam.
    »Es ist ganz einfach«, hatte Carola gesagt. »Man muss nur die Nerven behalten.«
    Genau das war Mikes Problem. Er versuchte, mit dem langsamen Ziehen mitzuhalten. So gut es ging, suchte er Tritt in den schmalen Vorsprüngen. Carola hatte ihm eingeschärft, dass sie ihn mit jedem gewonnenen Zentimeter von oben sichern würde. Dazu benutzte sie die Fahnenstange auf dem Denkmal, um die sie das Seil Stück für Stück herumlegen würde. Natürlich konnte sie ihn nicht ziehen. Klettern musste er schon selbst. Mike brach der Schweiß aus. Das Schlimmste war, dass niemand für ihn leuchten konnte. Er brauchte die Hände zum Klettern; zusätzlich eine Lampe zu halten war unmöglich.
    In der Dunkelheit zeichnete sich der obere Rand des Wappens ab. Das stilisierte Löwengesicht. Mike streckte die Arme nach oben, bekam den Vorsprung zu fassen und zog sich mühsam hoch. Mit den Füßen trat er nach, doch er kam nicht weiter. Ein schneidender Schmerz zuckte durch seine Schulter.
    »Ich schaff’s nicht«, ächzte er und hatte das Gefühl, zwischen Himmel und Erde zu hängen. Wie hoch war er über dem Boden? Er wollte nicht darüber nachdenken.
    Seine Füße fanden irgendwo Halt. Wahrscheinlich auf einem der schmalen Vorsprünge, von denen er jeden Moment abrutschen konnte. Konzentrier dich auf die kleinen Schritte, sagte er sich. Mach langsam.
    Carola zog von oben an, und es ging ein Stück weiter. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er auf dem oberen Rand des Wappens stand. Ein kleines bisschen Boden unter den Füßen. Immerhin. Das Seil war gespannt, und er hielt sich fest, so weit seine rutschigen Hände überhaupt etwas packen konnten. Sein Herz hämmerte, und er war völlig außer Atem.
    »Was ist?«, rief Carola herunter.
    »Lass mich verschnaufen«, keuchte Mike. »Nur einen Moment.« Er fühlte, wie ihm brennender Schweiß in die Augen lief, aber er traute sich nicht, das Seil loszulassen und ihn abzuwischen.
    Ein kühler Windhauch brachte den süßlichen Geruch des Flusswassers mit. Mike spürte, dass er unter seiner Jacke klatschnass geschwitzt war. Ein Schiff stampfte vorbei. Das dumpfe Geräusch ging in dem Summen unter, das sich plötzlich in Mikes Kopf ausbreitete. Ruhig durchatmen, sagte er sich. Du stehst hier sicher; beruhige dich erst mal. Das Seil war straff. Alles in Ordnung. Es konnte weitergehen.
    Er griff nach dem Wasserspeier, der vor ihm herausragte. Seine Hände fassten ins Leere. Er taumelte und konnte gerade noch das Seil packen. Er spürte einen Ruck, als ihn die Gurtkonstruktion festhielt. Seine Schulter knallte gegen den Stein. Der Schmerz kam ein paar Herzschläge später. Wie ein Feuer, das sich durch den Oberarm fraß.
    Verzweifelt suchte Mike mit den Füßen Halt auf dem Wappen, und im selben Moment brach die Panik wie eine eisige Dusche über ihn herein.
    »Lass mich runter!«
    »Was?«, kam es von oben.
    »Ich will nicht mehr!«, rief er. »Lass mich runter!«
    »Aber …«
    »Hast du nicht gehört?«, schrie er zornig. »Ich habe keinen Bock, da raufzuklettern!«
    Carola sagte etwas, das er nicht verstand, und er spürte, wie sie Seil nachgab.
    Er tastete sich nach unten, und es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er wieder auf dem Boden stand. Hektisch befreite er sich aus dem Gurt. In seiner Schulter pochte es. Er fingerte nach seinem Tabaksbeutel und begann sich eine Zigarette zu drehen.
    »He«, rief Carola von oben. »Mach wenigstens den Rucksack fest.«
    Mike hakte ihn am Gurt ein. Kurz darauf schleifte er an der Granitmauer nach oben.
    Missmutig und sich selbst verfluchend ging Mike die Treppen hinunter und betrat den bugförmigen Kiesplatz, der in den Zusammenfluss von Rhein und Mosel hineinragte. Als er fast an der Spitze angekommen war, drehte er sich um. Das Denkmal lag wie ein breiter, schwarzer Felsen im Dunkeln. Von den Straßenlampen am Peter-Altmeier-Ufer und in den Rheinanlagen kam nur ein dämmriger Schein herüber. Von Carola war nichts zu sehen; dabei war sie sicher dort oben mit der Taschenlampe zugange.
    Er
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