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Schängels Schatten

Titel: Schängels Schatten
Autoren: Oliver Buslau
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lehnte sich über das Eisengeländer, zündete die Zigarette an und starrte hinüber zur Festung Ehrenbreitstein. Oben ragten die alten Kasematten auf, darunter fiel der steile Felsen ab. Alles prächtig beleuchtet.
    Irgendwann knirschten Schritte auf ihn zu. Er drehte sich um und sah Carolas helle Gestalt, die schnell näher kam.
    »Verdammt, was hast du dir dabei gedacht?«, schrie sie.
    Er wandte sich ab. »Ich hab eben Angst gekriegt. Ich bin nicht so ein Kletterass wie du.«
    »Das meine ich nicht. Warum hast du so eine Sauerei auf die Fahne gemalt? Das ist doch total kindisch!«
    Er schluckte. Das hatte er vollkommen vergessen.
    »Ich dachte, wir schaffen das sowieso nicht«, murmelte er.
    »Was wir schaffen, weiß ich nicht. Ich habe es jedenfalls geschafft.«
    »Das weiß ich ja.«
    »Soll das vielleicht eine politische Aussage sein? Dieser Pimmel?«
    »Warum nicht?«
    »Du bist ja bescheuert.«
    Wütend griff sie nach dem Eisengeländer und begann Dehnübungen zu machen. Sie legte ein Bein auf die Verstrebung, streckte das andere ganz nach hinten und senkte langsam den Körper.
    Er sah ihr eine Weile zu. »Wie war’s denn da oben?«, fragte er dann.
    »Man sieht nicht so viel, wie ich dachte. Man müsste mal tagsüber rauf.«
    »Das wird ja nun gar nicht klappen«, sagte er.
    Sie unterbrach ihre Übungen und stellte sich breitbeinig hin. »Warum gibst du eigentlich immer gleich auf, Michael?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Was nicht geht, geht nicht. Ganz einfach.«
    »Das sehen andere anders. Ich bin zum Beispiel da raufgekommen, obwohl du vorher gesagt hast, dass das nicht geht.«
    »Du bist eben begabt.«
    »Auch wer begabt ist, muss was tun. Gerade der.«
    »Du redest wie mein früherer Klavierlehrer.«
    »Da ist ja auch kein großer Unterschied.«
    »Zwischen Sport und Musik? Das will ich doch hoffen.«
    Es war immer dasselbe. Carola war der Ehrgeiz in Person. Er war der Faulpelz. Sie kämpfte um das, was sie wollte. Er wartete darauf, dass es geflogen kam.
    »Egal, was du machst – du musst an dir arbeiten. Ob du Klavier spielst, Häuser baust, kletterst oder …«
    »Das kommt schon«, sagte Mike und sah auf die dunklen Flüsse hinaus.
    »Ach – und die Villa in Hollywood kommt dann auch, oder was? Den ganzen Tag im Bademantel rumlaufen, Geld ausgeben, ab und zu mal was am Klavier spielen …«
    Mike schüttelte den Kopf. Er bereute es, dass er Carola seinen Traum verraten hatte, später als reicher Musiker in Amerika zu leben.
    Carola gelang es einfach nicht, ihm klar zu machen, dass so etwas nicht von selbst kam. »Manchmal habe ich gute Ideen. Das reicht doch«, sagte er oft. Wenn sie bei Mike zu Hause waren, setzte er sich ans Klavier und begann irgendeine Melodie zu spielen. »Ist mir gerade eingefallen«, sagte er dann und lächelte. Und Carola sagte nichts mehr. Er wusste, dass sie sein Klavierspiel toll fand. Und vielleicht noch mehr an ihm. Hoffte er zumindest. Auch wenn sie ständig auf seiner Faulheit herumhackte – er hatte das Gefühl, dass Carola der einzige Mensch war, der ihn vollkommen verstand. Sie war anders als die Mädchen, die er sonst aus der Schule kannte. Mit Carola konnte er reden, und wenn ihnen mal nicht nach Reden zumute war, konnte er ihr etwas vorspielen. Wenn das passierte, gab es manchmal Momente, in denen die Zeit stillzustehen schien. Einmal hatte er gespielt und gespielt, was ihm gerade eingefallen war, und Carola hatte dagesessen und zugehört. Danach war er wie aus einem Traum erwacht.
    »Hast du unsere Fahne denn gehisst?«, fragte Mike.
    »Sicher. Und die andere runtergenommen.« Sie bückte sich und griff nach dem Rucksack, den sie auf den Boden gestellt hatte. Mike sah erst jetzt, dass darauf ein zusammengerollter Packen lag. Er tastete nach dem Stoff.
    »Nicht schlecht. Und was machen wir jetzt damit?«
    Sie lächelte verschmitzt. »Ich würde sagen, wir übergeben sie den Fluten. Wie geplant.«
    Carola nahm die Wurst aus Stoff und reichte Mike das eine Ende. Er griff zu. Sie war ganz schön schwer.
    »Auf drei?«, schlug sie vor.
    »Auf drei«, sagte Mike und nickte.
    »Und eins, und zwei …« Sie ließen die Stoff-Wurst schaukeln.
    »Und dreiiiiii …«
    Als die Flagge das Wasser traf, gab es noch nicht mal ein Platschen. Mike hatte sich das alles anders vorgestellt. Irgendwie triumphaler. Aber dafür hätte er auch bis zum Schluss mitmachen müssen. Während der dunkle Fleck lautlos im Wasser verschwand, stellte er fest, dass er sich wieder mal wie
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