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Sayuri

Sayuri

Titel: Sayuri
Autoren: Carina Bargmann
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Öffnung im Mauerwerk war von außen nur notdürftig mit Brettern vernagelt worden. Ein Stein hatte vor einigen Tagen die Scheibe zerstört, Marje selbst hatte ihn geworfen. Zwischen den Ritzen flutete das Mondlicht ungehindert in den Gang.
    Die Schritte kamen noch näher. Jetzt tauchte der Schatten des Soldaten im Gang auf. Ein Klirren ertönte, die Fackel wurde aus ihrem Ständer neben der Treppe gehoben.
    Marje schloss die Augen und sandte ein Gebet an Turu.
    »Sithar?« Eilige Schritte näherten sich vom anderen Ende des Ganges. Marje blinzelte. Das Licht der Fackel flackerte.
    »Schichtwechsel, alter Junge«, verkündete eine helle Stimme.
    Marje hielt den Atem an.
    »Endlich«, murrte der Soldat, der nicht mal eine Mannslänge vor Marjes Versteck stehen geblieben war, und steckte die Fackel zurück in die Halterung. »Ihr seid spät dran!«
    Endlich, dachte auch Marje und unterdrückte einen Stoßseufzer. Einen Herzschlag später zogen sich die Schatten der beiden Männer zurück.
    Marje streckte vorsichtig ihre Glieder. Das war mehr als knapp gewesen. Sie öffnete die Hände, um Shio wieder freizulassen. Das winzige Irrlicht glomm nur noch so schwach, dass es gerade nicht verlosch, aber immer noch hell genug, um die Aufmerksamkeit der Wachen in einem dunklen Treppenhaus auf sich zu ziehen, falls sie sich doch noch einmal umsahen. So verharrte es zwischen ihren Fingern, bis die schweren Schritte der Wachen in der Ferne verklungen waren.
    »Weiter«, flüsterte Marje schließlich leise. Sie wusste, dass der Schichtwechsel ihnen eine Viertelstunde gab, nicht mehr und nicht weniger.
    Shio erhob sich aus ihrer Hand in die Luft. Einmal kreiste das Irrlicht um den Kopf des Mädchens, dann flog es zum Treppenabsatz hinüber und spähte den Gang entlang.
    Vorsichtig rutschte Marje aus der Nische und blickte sich um. Ihre Lederschuhe verursachten keinen Laut auf dem Faliostein, aus dem die Zinade erbaut war.
    Die Luft war rein. Nur die Schatten kleiner Steinvorsprünge tanzten an den Wänden im unruhigen Licht der Fackeln. Die Lichter flankierten die Treppe, die dem gewundenen Lauf des Ganges folgte, zu beiden Seiten.
    Wie ein Ring umschloss das Gangsystem, in dem Marje unterwegs war, den Wasserspeicher in der Mitte der Zinade. Der Speicher selbst war ein offener, kreisrunder Raum, der mehr als zweiunddreißig Schritt Durchmesser maß. Zwei voneinander unabhängige Aufgänge schraubten sich spiralförmig vier Stockwerke in die Höhe und mündeten beide ins Herz der Zinade, den Kontrollraum, von dem aus die gespeicherten Wassermassen in die Stadtviertel geleitet wurden.
    Marje lauschte noch einen kurzen Augenblick angestrengt in die Stille. Dann nickte sie Shio zu und sie huschten den Gang entlang, zur nächsten Treppe, die sie weiter zum Treffpunkt führen würde, wenn die Karten stimmten. Niemand stellte sich ihnen in den Weg, als Marje den dritten Stock passierte und schließlich im vierten anlangte.
    Das Irrlicht schwebte vorsichtig voran und erhellte den Gang mit seinem warmen Licht. Marje duckte sich am Treppenabsatz und spähte einmal mehr zurück, in der Hoffnung, mögliche Verfolger oder Gefahren rechtzeitig zu erkennen.
    Als Shios Licht die Umrisse einer Tür erhellte, die ins Innere des Speichers zu führen schien, wagte sie es, sich aufzurichten und ihrem Freund zu folgen.
    Einen Moment später kniete Marje sich auf den Boden. Die Karten hatten nicht gelogen – sie hatte es geschafft! Das Gangsystem führte hier tatsächlich zu einer schlichten Holztür, wie Milan es gesagt hatte. Als einziger Schmuck war rund um das Schloss das Wappen der Stadt eingelassen, ein kreisrunder Ring, der die Quelle symbolisierte. Ein Blick auf das Schloss genügte Marje, um zu erkennen, dass die Tür durch einen komplizierten Mechanismus geschützt war. Sie unterdrückte ein Seufzen. Auch das hatte Milan vorausgesehen.
    Shio dimmte sein Licht ab und kreiste unaufhörlich um ihren Kopf, während Marje einen Satz schmaler Stifteisen hervorzog. Unruhig glitt ihr Blick zu der Sanduhr, die sie am Gürtel trug und ihr vor Augen führte, wie schnell die Zeit doch verrann. Die Patrouillengänge der Wächter waren engmaschig angesetzt, die einzige Möglichkeit, so hoch in die Zinade zu gelangen, war der Schichtwechsel, der um die dritte Stunde der Nacht vorgenommen wurde und ihnen ein wenig Zeit verschaffte.
    Aber wo blieb nur Milan? Sie war davon ausgegangen, dass er als Erster hier eintreffen würde. Sie hatten sich am Tor der Zinade
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