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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang
Autoren: Anne Chaplet
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Polizisten ruhig und gelassen, aber Julius wartete auf den Moment, in dem sie sich überschlugen und dabei doch nicht so schnell waren wie die Ereignisse. So war es gestern gewesen, und er hatte jede Sekunde genossen: die Sprechchöre der Demonstranten, die bemalten Gesichter der Hausbesetzer, das Geräusch, mit dem die Polizisten die Schilde aufnahmen. Der Duft der von den starken Scheinwerfern erhitzten Luft, der Geruch nach Diesel. Der Moment, in dem Bewegung ins Bild kam: Die Polizisten stürmten, die Demonstranten rannten, die Hausbesetzer hoben den Arm und warfen – Steine, Molotowcocktails. Julius hatte eine Flasche nicht weit entfernt auf dem Bürgersteig zerplatzen sehen, aber es scherte ihn nicht, daß er in die Wurfbahn hätte geraten können.
    Was heute auf ihn zukommen würde? Julius wippte auf den Fußballen auf und ab und lächelte in sich hinein. Abwarten.
    Das Haus in der Schumannstraße sah im zuckenden blauen Licht und den hellen Scheinwerfern der Einsatzfahrzeuge wie eine Filmkulisse aus »Jack the Ripper« aus. Jedes Detail, all die Stürze und Voluten, die Pilaster und Friese, die Nischen und Erker, verdoppelte sich durch die tiefen Schatten, die es warf, und das kreisende Blaulicht setzte die Gründerzeitfassade in Bewegung, als ob sie aus Leinwand wäre, durch die der Wind fährt. Das Häuflein von Hausbesetzern hatte sich hinter der Sandsteinbalustrade des großen Balkons aufgestellt, der im 1. Stock des Hauses fast über seine ganze Breite ging, man lachte, trank Bier aus der Flasche, winkte zu den Polizisten hinunter und machte obszöne Gesten. Außerhalb der hellerleuchteten Arena vor dem besetzten Haus sammelten sich die Sympathisanten. Julius spürte ihre Anwesenheit wie den zunehmenden Druck beim Landen eines Flugzeugs.
    Erst als ein Mann an ihm vorbeilief, der sein Gesicht hinter einem schwarzweißen Palästinensertuch versteckt hielt – Julius roch beißenden Schweiß, billigen Rotwein, abgestandenen Zigarettenrauch und Benzin –, löste er sich von seinem Beobachtungsposten, denn drei junge Polizisten nahmen die Verfolgung auf, und er hatte keine Sehnsucht nach einem Polizeiknüppel auf dem Kopf oder, wie er es gestern gesehen hatte, zwischen die Beine. Der getroffene Student hatte gequiekt wie ein Schwein und sich dann, an den Armen zwischen zwei Polizisten hängend, erbrochen.
    Sprechchöre ertönten aus der Dunkelheit. Es mußten in der letzten Stunde mehr hinzugekommen sein, als er vermutet hätte. Er hörte nicht, was gerufen wurde. Er spürte dem Sound nach, dieser Mischung aus Kriegsgebrüll und Beschwörung, in der Angst mitschwang, aber auch Stärke, die aus dem Gefühl der Masse kam. Wir sind viele, wir sind gefährlich. Ihn faszinierte das Primitive dieses Schauspiels, und er wartete insgeheim darauf, daß auch die Polizisten eine Art Kriegstanz aufführten, bevor sie angriffen.
    Und dann kam der Einsatzbefehl. Die Visiere der Helme gingen wie in einer einzigen Bewegung hinunter. Julius hörte es klacken, als sie über dem Kinnbügel aufsetzten.
    Er war fasziniert vom Einklang der Körper, die sich jetzt zielstrebig auf die Eingangstür des besetzten Hauses zubewegten. Er sah das Beil blitzen, mit dem einer der Bullen das Brett wegschlug, das man vor die Tür genagelt hatte.
    Von oben johlte es. Die Sympathisanten in der Dunkelheit, die näher gerückt zu sein schienen, johlten ebenfalls. Die Blaulichter auf dem Wasserwerfer kreisten und kreisten, und die Fotografen hatten sich herangepirscht und fotografierten in einem Blitzlichtgewitter die Eingangstür, die jetzt offenstand. Man ahnte das Treppenhaus, aber Julius sah nur einen schwarzen Schlund.
    Jetzt rückte eine zweite Polizistengruppe vor. Die Männer rissen die Schilde hoch, die sie in der linken Hand trugen, rechts reckten sie einen Holzknüppel. Wie die alten Griechen, dachte Julius, der in Latein nur dann aufgepaßt hatte, wenn es wieder mal um eine ordentliche kleine Prügelei irgendwo auf dem Peloponnes gegangen war.
    Aus dem Haus hörte man Lärm – brechendes Holz, wütende Rufe. Dann ein Geräusch, das wie eine platzende und zersplitternde Bierflasche klang. Es zischte. Silvesterraketen, dachte Julius. Durch das Fenster rechts vom Balkon war ein Lichtschein zu erkennen. Und dann rauschte eine Flamme hoch, mit einem Geknatter wie ein sich im Wind blähendes Segel.
    Jetzt der Befehl des Einsatzleiters: »Wasser Marsch!« Die beiden Drehtürme des Wasserwerfers bewegten sich. Der Laut, mit dem die
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