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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang
Autoren: Anne Chaplet
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die Hand hin und sagte: »Sie sind …?«
    »Der Sohn.«
    »Ihr Vater leidet nach einem Schlaganfall an halbseitiger Lähmung. Das wird wieder. Aber das dauert.«
    Der Arzt lächelte und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
    Benja half ihm, die Sachen auszupacken, strich seinem Vater über den bleichen Schädel und empfahl Will, morgen früh wiederzukommen.
    Will ging zu Fuß durch die kühle Nachtluft nach Hause. Die Vorstellung, daß sein Vater nicht zurückkommen könnte, bedrückte ihn. Was aber, wenn er zurückkam – im Rollstuhl?
    Wenn Karl nicht mehr allein essen konnte? Wenn man ihn anziehen mußte, wenn er nicht mehr allein aufs Klo gehen konnte? Was, wenn man ihm den Hintern abwischen, ihn windeln und füttern mußte wie ein kleines Kind?
    Bislang war die Vorstellung rein theoretisch gewesen, für den Alten zu sorgen, wenn er hinfällig würde. Nun war der Fall über Nacht eingetreten, und Will fühlte sich mitnichten vorbereitet auf die Situation, von der er großmäulig geredet hatte, den Freunden gegenüber.
    Den Gedanken an Liebesnächte mit wem auch immer konnte er ebenso streichen wie alles andere, was er sich noch glaubte vornehmen zu dürfen im Leben. Gut möglich, daß Karl auch als Pflegefall uralt wurde. Sicher, man konnte von seinen Bezügen leben zu zweit. Aber wo blieb die Lebensqualität?
    Das Haus in der Hansaallee lag schon jetzt da wie ein Altersheim – in keiner der Wohnungen brannte noch Licht, obwohl es erst 22 Uhr war. Man geht eben früh ins Bett im höheren Alter, dachte Will und schloß die Haustür auf.
     
    Aus Trotz illuminierte er die ganze Wohnung, als ein Lebenszeichen an alle, die noch wach waren. Und dabei entdeckte er seines Vaters kleines Geheimnis.
    In einer Kammer, die nur von seinem Schlafzimmer aus zu erreichen war, hatte Karl eine Art Werkstatt eingerichtet. Auf einem Türblatt, das auf zwei Holzböcken ruhte, lagen allerhand Röhren und andere Gegenstände, die Will unbekannt waren. In der Mitte stand ein dunkelgrün lackierter Kasten, an seiner Vorderfront befanden sich Knöpfe und Hebel, das Ganze erinnerte an ein Radio. Dann sah Will einen Stempel in der rechten Ecke der Vorderfront, der einen Adler zeigte, ein Hakenkreuz in den Klauen. Neben dem Kasten lagen ein Schreibblock und ein Kuli, Will erkannte die akkurate Handschrift seines Vaters. Die Überschrift zu seinen Notizen hatte er besonders schwungvoll gemalt:
    »Das deutsche Funksystem im Zweiten Weltkrieg am Beispiel des Mittelwelleempfängers Cäsar (M.w.E.c.).«
    Das kleine c zerfloß, als eine Träne darauf tropfte. Du weinst verdammt häufig in letzter Zeit, dachte Will.

16
    Deitmer und Gieseking waren zu spät gekommen. Julius Wechsler war zwar in seinem Büro, aber er lag neben dem Schreibtisch, zwar nicht tot, aber ziemlich nahe dran. Jemand hatte ihm mit einem schweren Aschenbecher den Schädel eingeschlagen.
    Karen Stark verfluchte die beiden – und ihre eigenen Eingebungen, die ihr viel zu spät gekommen waren. Aus dem Krankenhaus verlautete, Wechsler liege im Koma. Der Anschlag auf ihn mußte am Abend zuvor erfolgt sein, als er allein war im Büro. Niemand hatte eine verdächtige oder fremde Person kommen oder gehen sehen. Neben dem halbtoten Wechsler hatte eine Art Amulett gelegen, ein Pentakel, wie Karen sich von einem Beamten der Spurensicherung belehren ließ. Es sah aus wie eine Art verkürzter Davidstern in einem Ring. Niemand konnte etwas damit anfangen.
    Julius Wechsler war nicht gewürgt, er war wütend attackiert worden. Nichts war elegant an seinen Verletzungen, er mußte sich heftig gewehrt haben. Höchstwahrscheinlich fand die Spurensicherung jede Menge Hinweise auf den Täter. Dennoch hoffte Karen, daß der Mann bald wieder erwachte. Am einfachsten war es, wenn Wechsler selbst sagen konnte, wer ihn angegriffen hatte.
    Drei Tote, ein Verletzter. Karen sah außer der Freundschaft zwischen den Männern noch immer keinen zwingenden Zusammenhang, zumal Max Winter eines natürlichen Todes gestorben war.
    Ihr graute vor der Pressekonferenz. Julius Wechsler war ein Fall für die Öffentlichkeit – und wenn Niels Keller da war, womit man rechnen mußte, würde er die Verbindung zwischen den Toten ansprechen. Was sollte sie dazu sagen? Daß sie keine sah, obwohl sie selbst lange genug an einen Zusammenhang geglaubt hatte?
     
    »Das ist doch wieder nur die halbe Wahrheit, die Sie uns hier erzählen!« Niels Keller hatte sich halb aufgerichtet und fuchtelte mit dem
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