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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben
Autoren: Nele Neuhaus
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Prolog
    Die rostige Eisentreppe war schmal und führte steil nach unten. Er tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Sekunden später tauchte die 25-Watt-Birne den kleinen Raum in schummeriges Licht. Lautlos öffnete sich die schwere Eisentür. Er ölte regelmäßig die Scharniere, damit kein Quietschen sie aufweckte, wenn er sie besuchte. Warme Luft, vermischt mit dem süßlichen Duft verwelkender Blumen, drang ihm entgegen. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich, schaltete das Licht ein und verharrte einen Moment reglos. Der große, etwa zehn Meter lange und fünf Meter breite Raum war schlicht eingerichtet, aber sie schien sich hier wohl zu fühlen. Er ging hinüber zur Stereoanlage und betätigte die PLAY-Taste. Die raue Stimme von Bryan Adams füllte den Raum. Er selbst konnte der Musik nicht viel abgewinnen, aber sie liebte den kanadischen Sänger, und er pflegte Rücksicht auf ihre Vorlieben zu nehmen. Wenn er sie schon verstecken musste, dann sollte es ihr an nichts fehlen. Wie üblich sagte sie nichts. Sie sprach nicht mit ihm, antwortete ihm nie auf seine Fragen, aber das störte ihn nicht. Er rückte die spanische Wand, die den Raum diskret teilte, beiseite. Da lag sie, still und schön auf dem schmalen Bett, die Hände auf dem Bauch gefaltet, das lange Haar breitete sich wie ein schwarzer Fächer um ihren Kopf aus. Neben dem Bett standen ihre Schuhe, auf dem Nachttisch ein Strauß verwelkter weißer Lilien in einer gläsernen Vase.
    »Hallo, Schneewittchen«, sagte er leise. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die Hitze war kaum auszuhalten, aber sie mochte es so. Schon früher hatte sie schnell gefroren. Sein Blick wanderte zu den Fotos, die er für sie neben ihrem Bett aufgehängt hatte. Er wollte sie bitten, ob er ein neues Foto dazuhängen durfte. Aber er musste diese Bitte zu einem geeigneten Moment anbringen, nicht dass sie beleidigt war. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante. Die Matratze senkte sich unter seinem Gewicht, und für einen Moment glaubte er schon, sie habe sich bewegt. Aber nein. Sie bewegte sich nie. Er streckte die Hand aus und legte sie an ihre Wange. Ihre Haut hatte im Laufe der Jahre einen gelblichen Farbton angenommen, fühlte sich fest und ledrig an. Sie hatte wie immer die Augen geschlossen, und wenn auch ihre Haut nicht mehr so zart und rosig war, ihr Mund war so schön wie früher, als sie noch mit ihm geredet und ihn angelächelt hatte. Eine ganze Weile saß er da und betrachtete sie. Nie war der Wunsch, sie zu beschützen, stärker gewesen.
    »Ich muss wieder gehen«, sagte er schließlich bedauernd. »Ich habe so viel zu tun.«
    Er stand auf, nahm die welken Blumen aus der Vase und vergewisserte sich, dass die Flasche Cola auf ihrem Nachttischchen voll war.
    »Du sagst mir, wenn du etwas brauchst, ja?«
    Manchmal vermisste er ihr Lachen, dann wurde er traurig. Natürlich wusste er, dass sie tot war, dennoch fand er es einfacher, so zu tun, als wisse er es nicht. So ganz hatte er die Hoffnung auf ein Lächeln von ihr nie aufgegeben.

Donnerstag, 6. November 2008
    Er sagte nicht »Auf Wiedersehen«. Niemand, der aus dem Knast entlassen wird, sagt »Auf Wiedersehen«. Oft, sehr oft hatte er sich in den vergangenen zehn Jahren den Tag seiner Haftentlassung ausgemalt. Jetzt musste er feststellen, dass seine Gedanken eigentlich immer nur bis zu dem Augenblick gegangen waren, in dem er durch das Tor in die Freiheit trat, die ihm plötzlich bedrohlich erschien. Er hatte keine Pläne für sein Leben. Nicht mehr. Auch ohne die gebetsmühlenartigen Vorhaltungen der Sozialarbeiter war ihm seit langem bewusst, dass die Welt nicht auf ihn wartete und er sich auf allerhand Vorbehalte und Niederlagen in seiner nicht mehr besonders rosigen Zukunft würde einstellen müssen. Eine Karriere als Arzt, die er damals nach seinem Einser-Abi angestrebt hatte, konnte er vergessen. Unter Umständen mochten ihm sein Studium und die Ausbildung zum Schlosser, die er im Knast absolviert hatte, weiterhelfen. Auf jeden Fall war es an der Zeit, dem Leben ins Auge zu sehen.
    Als sich das graue, zackenbewehrte Eisentor der JVA Rockenberg mit einem metallischen Scheppern hinter ihm schloss, sah er sie auf der anderen Straßenseite stehen. Obwohl sie in den vergangenen zehn Jahren die Einzige aus der alten Clique gewesen war, die ihm regelmäßig geschrieben hatte, war er erstaunt, sie hier zu sehen. Eigentlich hatte er seinen Vater erwartet. Sie lehnte am Kotflügel eines silbernen
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