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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben
Autoren: Nele Neuhaus
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irgendwann in den fünfziger Jahren eingestellt worden, ebenso lang lag wohl die letzte Befüllung der Tanks zurück. Das Skelett mochte das einer amerikanischen Soldatin aus dem US-Camp sein, das bis Oktober 1991 nebenan existiert hatte, oder gar das einer Bewohnerin des ehemaligen Asylantenheimes auf der anderen Seite des verrosteten Maschendrahtzaunes.
    »Gehen wir noch irgendwo einen Kaffee trinken?« Henning setzte seine Brille ab und rieb sie trocken, dann schälte er sich aus dem durchnässten Overall. Pia blickte ihren Exmann überrascht an. Cafebesuche während der Arbeitszeit waren ganz und gar nicht seine Art.
    »Ist irgendetwas passiert?«, fragte sie deshalb argwöhnisch. Er schürzte die Lippen, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus.
    »Ich sitze ganz schön in der Bredouille«, gab er zu. »Und ich brauche deinen Rat.«
    Das Dorf kauerte im Tal, überragt von zwei hässlichen, mehrstöckigen Bausünden aus den Siebzigern, als jede Gemeinde, die etwas auf sich hielt, Hochhäuser genehmigt hatte. Rechts am Hang lag der »Millionenhügel«, wie die Alteingesessenen mit verächtlichem Unterton die beiden Straßen nannten, in denen die wenigen Zugezogenen in Villen auf großzügigen Grundstücken lebten. Er spürte, wie sein Herz aufgeregt klopfte, je näher sie dem Haus seiner Eltern kamen. Elf Jahre war es her, dass er zum letzten Mal hier gewesen war. Zur Rechten lag das Fachwerkhäuschen von Oma Dombrowski, das seit eh und je so aussah, als würde es nur noch stehen, weil es zwischen zwei anderen Häusern eingequetscht war. Ein Stück weiter kam links der Hof von Richters mit dem Laden. Und schräg gegenüber die Gaststätte seines Vaters, der Goldene Hahn. Tobias musste schlucken, als Nadja davor anhielt. Ungläubig wanderten seine Augen über die heruntergekommene Fassade, den abblätternden Putz, die geschlossenen Rollläden, die herabhängende Dachrinne. Unkraut hatte sich durch den Asphalt gefressen, das Hoftor hing schief in den Angeln. Beinahe hätte er Nadja gebeten weiterzufahren – schnell, schnell, nur weg hier! Doch er widerstand auch dieser Versuchung, bedankte sich knapp, stieg aus und nahm seinen Koffer von der Rückbank.
    »Wenn du irgendetwas brauchst, ruf mich an«, sagte Nadja zum Abschied, dann gab sie Gas und düste davon. Was hatte er erwartet? Einen fröhlichen Empfang? Er stand allein auf dem kleinen asphaltierten Parkplatz vor dem Gebäude, das einmal der Mittelpunkt dieses traurigen Kaffs gewesen war. Der ehemals strahlend weiße Putz war verwittert und bröckelte ab, der Schriftzug »Zum Goldenen Hahn« war kaum noch zu erkennen. In der Eingangstür hing hinter einer gesprungenen Milchglasscheibe ein Schild. »Vorübergehend geschlossen«, stand da in verblasster Schrift. Sein Vater hatte ihm zwar irgendwann erzählt, dass er die Gaststätte aufgegeben hatte, und das mit seinen Bandscheibenproblemen begründet, aber Tobias ahnte, dass ihn etwas anderes zu dieser schweren Entscheidung veranlasst hatte. Hartmut Sartorius war in dritter Generation und mit Leib und Seele Gastwirt gewesen, er hatte selbst geschlachtet und gekocht, seinen eigenen Apfelwein gekeltert und die Gaststätte keinen einzigen Tag wegen Krankheit vernachlässigt. Wahrscheinlich waren die Gäste ausgeblieben. Niemand wollte bei den Eltern eines Doppelmörders essen oder gar feiern. Tobias holte tief Luft und ging zum Hoftor. Es bedurfte einiger Anstrengung, wenigstens einen der Torflügel zu bewegen. Der Zustand des Hofes versetzte ihm einen Schock. Dort, wo im Sommer einst Tische und Stühle unter den ausladenden Ästen einer mächtigen Kastanie und einer malerisch von wildem Wein überrankten Pergola gestanden hatten, wo Kellnerinnen geschäftig von einem Tisch zum anderen geeilt waren, herrschte traurige Verwahrlosung. Tobias' Blick wanderte über Berge von achtlos abgestelltem Sperrmüll, zerbrochenen Möbeln und Unrat. Die Pergola war zur Hälfte eingestürzt, der wilde Wein verdorrt. Niemand hatte die herabgefallenen Blätter der Kastanie zusammengefegt, die Mülltonne war offenbar seit Wochen nicht mehr an den Straßenrand gestellt worden, denn die Müllsäcke stapelten sich daneben zu einem stinkenden Haufen. Wie konnten seine Eltern hier leben? Tobias spürte, wie ihn das letzte bisschen Mut, mit dem er hier angekommen war, verließ. Er bahnte sich langsam einen Weg bis zu den Stufen, die zur Haustür hinaufführten, streckte die Hand aus und drückte auf die Klingel. Das Herz schlug ihm bis zum
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