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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben
Autoren: Nele Neuhaus
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Hals, als die Tür zögerlich geöffnet wurde. Der Anblick seines Vaters trieb Tobias die Tränen in die Augen, gleichzeitig stieg Wut in ihm auf, Wut auf sich selbst und auf die Leute, die seine Eltern im Stich gelassen hatten, nachdem er ins Gefängnis gegangen war.
    »Tobias!« Ein Lächeln flog über das eingefallene Gesicht von Hartmut Sartorius, der nur noch ein Schatten des vitalen, selbstbewussten Mannes von damals war. Sein ehemals volles, dunkles Haar war grau und schütter geworden, seine gekrümmte Körperhaltung verriet, wie schwer er an der Last trug, die das Leben ihm aufgebürdet hatte.
    »Ich … ich hatte eigentlich noch etwas aufräumen wollen, aber ich habe nicht freibekommen und …« Er brach ab, hörte auf zu lächeln. Stand einfach nur da, ein gebrochener Mann, der dem Blick seines Sohnes beschämt auswich, weil ihm bewusst wurde, was dieser sah. Das war mehr, als Tobias ertragen konnte. Er ließ den Koffer fallen, breitete die Arme aus und umarmte unbeholfen diesen ausgemergelten, grauen Fremden, in dem er seinen Vater kaum noch erkannte. Wenig später saßen sie sich befangen am Küchentisch gegenüber. Es gab so viel zu sagen, und doch war jedes Wort überflüssig. Die grellbunte Wachstuchtischdecke war voller Krümel, die Fensterscheiben schmutzig, eine verdorrte Topfpflanze am Fenster hatte den Kampf ums Überleben vor langer Zeit verloren. Es war klamm in der Küche, es roch unangenehm nach saurer Milch und kaltem Zigarettenrauch. Kein Möbelstück war umgestellt, kein Bild von der Wand genommen worden, seitdem man ihn am 16. September 1997 verhaftet und er das Haus verlassen hatte. Aber damals war alles hell und freundlich und blitzsauber gewesen, seine Mutter war eine tüchtige Hausfrau. Wie konnte sie diese Verwahrlosung zulassen und ertragen?
    »Wo ist Mama?«, brach Tobias schließlich das Schweigen. Er merkte, dass diese Frage seinen Vater in eine neue Verlegenheit stürzte.
    »Wir … wir wollten es dir eigentlich sagen, aber … aber dann dachten wir, es sei besser, wenn du es nicht erfährst«, erwiderte Hartmut Sartorius schließlich. »Deine Mutter ist vor einer Weile … ausgezogen. Sie weiß aber, dass du heute nach Hause kommst, und freut sich, dich zu sehen.«
    Tobias blickte seinen Vater verständnislos an.
    »Was soll das heißen – sie ist ausgezogen?«
    »Es war nicht einfach für uns, nachdem du … weggegangen bist. Das Gerede hörte nicht auf. Sie hat das irgendwann nicht mehr ausgehalten.« Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, die brüchig und leise geworden war. »Vor vier Jahren sind wir geschieden worden. Sie wohnt jetzt in Bad Soden.«
    Tobias schluckte mühsam.
    »Wieso habt ihr mir nie etwas gesagt?«, flüsterte er.
    »Ach, es hätte doch nichts geändert. Wir wollten nicht, dass du dich aufregst.«
    »Das heißt, du lebst hier ganz alleine?«
    Hartmut Sartorius nickte und schob mit der Handkante die Krümel auf der Tischdecke hin und her, ordnete sie zu symmetrischen Formen und wischte sie wieder auseinander.
    »Und die Schweine? Die Kühe? Wie schaffst du die ganze Arbeit?«
    »Die Tiere habe ich schon vor vielen Jahren abgeschafft«, antwortete der Vater. »Ein bisschen Landwirtschaft mache ich noch. Und ich habe einen ganz guten Job in einer Küche in Eschborn gefunden.«
    Tobias ballte die Hände zu Fäusten. Wie beschränkt war er gewesen, anzunehmen, nur er sei vom Leben bestraft worden! Er hatte nie richtig begriffen, wie sehr auch seine Eltern unter alldem gelitten hatten. Bei ihren Besuchen im Gefängnis hatten sie ihm eine heile Welt vorgespielt, die es in Wahrheit nie gegeben hatte. Wie viel Kraft musste sie das gekostet haben! Hilfloser Zorn legte sich wie eine Hand um seine Kehle und würgte ihn. Er stand auf, trat ans Fenster und starrte blicklos hinaus. Seine Absicht, nach ein paar Tagen bei seinen Eltern woanders hinzugehen, um weit entfernt von Altenhain einen neuen Start ins Leben zu versuchen, zerfiel zu Staub. Er würde hierbleiben. In diesem Haus, auf diesem Hof, in diesem verfluchten Kaff, in dem man seine Eltern hatte leiden lassen, obwohl sie gänzlich ohne Schuld waren.
    Der holzgetäfelte Gastraum im Schwarzen Ross war brechend voll, der Geräuschpegel entsprechend hoch. An Tischen und Tresen hatte sich halb Altenhain versammelt, ungewöhnlich für einen frühen Donnerstagabend. Amelie Fröhlich balancierte dreimal Jägerschnitzel mit Pommes zu Tisch 9, servierte und wünschte guten Appetit. Normalerweise hatten
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