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Schneewittchen muss sterben

Schneewittchen muss sterben

Titel: Schneewittchen muss sterben
Autoren: Nele Neuhaus
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Baggerfahrer in einem der leeren Treibstofftanks Knochen und einen menschlichen Schädel entdeckt und sehr zur Verärgerung seines Chefs daraufhin die Polizei gerufen. Nun stand die Arbeit seit zwei Stunden still, und Pia durfte sich die Schimpftiraden des übellaunigen Vorarbeiters anhören, dessen multikulturelle Abbruchmannschaft sich beim Auftauchen der Polizei schlagartig dezimiert hatte. Der Mann zündete sich die dritte Zigarette innerhalb einer Viertelstunde an und zog die Schultern hoch, als ob das den Regen daran hindern könnte, ihm in den Jackenkragen zu laufen. Dabei fluchte er unablässig vor sich hin.
    »Wir warten auf den Rechtsmediziner. Er wird schon kommen.« Pia interessierte weder die offensichtliche Beschäftigung von Schwarzarbeitern auf der Baustelle noch der Zeitplan der Abbrucharbeiten. »Reißen Sie doch erst eine andere Halle ab.«
    »Sie sagen das so einfach«, beschwerte sich der Mann und wies in Richtung der wartenden Bagger und Lkw. »Wegen so 'n paar Knochen kommen wir richtig in Verzug, das kostet ein Vermögen.«
    Pia zuckte die Schultern und wandte sich um. Ein Auto holperte über den zerborstenen Beton. Unkraut hatte sich durch jede Fuge gefressen und aus der ehemals glatten Rollbahn eine wahre Buckelpiste gemacht. Seit der Stilllegung des Flugplatzes hatte die Natur eindrucksvoll bewiesen, dass sie in der Lage war, jedes von Menschenhand erschaffene Hindernis wieder zu überwinden. Pia ließ den Vorarbeiter lamentieren und ging auf den silbernen Mercedes zu, der neben den Polizeifahrzeugen angehalten hatte.
    »Du hast dir ja ordentlich Zeit gelassen«, begrüßte sie ihren Exmann wenig freundlich. »Wenn ich eine Erkältung kriege, bist du schuld.«
    Dr. Henning Kirchhoff, stellvertretender Leiter der Frankfurter Rechtsmedizin, ließ sich nicht hetzen. In aller Seelenruhe zog er den obligatorischen Einwegoverall über, tauschte seine blitzblanken schwarzen Lederschuhe gegen Gummistiefel und setzte die Kapuze auf.
    »Ich hatte eine Vorlesung«, entgegnete er. »Und dann gab's noch einen Stau an der Messe. Tut mir leid. Was haben wir?«
    »Ein Skelett in einem der alten Bodentanks. Die Abbruchfirma hat es vor etwa zwei Stunden gefunden.«
    »Ist es bewegt worden?«
    »Ich glaube nicht. Sie haben nur den Beton und die Erde entfernt, dann den oberen Teil des Tanks aufgeschweißt, weil sie die Dinger nicht komplett abtransportieren können.«
    »Gut.« Kirchhoff nickte, grüßte die Beamten der Spurensicherung und schickte sich an, in die Grube unter der Zeltplane zu klettern, in der sich der untere Teil des Tanks befand. Zweifellos war er der beste Mann für diese Aufgabe, denn er war einer der wenigen forensischen Anthropologen Deutschlands, und menschliche Knochen waren sein Spezialgebiet. Der Wind trieb den Regen nun beinahe horizontal über die freie Fläche. Pia fror bis ins Mark. Das Wasser tropfte vom Schirm ihrer Baseballkappe auf ihre Nase, ihre Füße hatten sich in Eisklumpen verwandelt, und sie beneidete die Männer des zur Untätigkeit verdammten Abrisstrupps, die im Flugzeughangar standen und heißen Kaffee aus Thermosflaschen tranken. Wie üblich arbeitete Henning sorgfältig; hatte er erst einmal irgendwelche Knochen vor sich, verloren Zeit und äußere Einflüsse für ihn völlig an Bedeutung. Er kniete auf dem Boden des Tanks, über das Skelett gebeugt, und betrachtete einen Knochen nach dem anderen. Pia bückte sich unter die Plane und hielt sich an der Leiter fest, um nicht abzurutschen.
    »Ein komplettes Skelett«, rief Henning zu ihr hinauf. »Weiblich.«
    »Alt oder jung? Wie lange liegt es schon hier?«
    »Dazu kann ich noch nichts Genaues sagen. Auf den ersten Blick sind keine Gewebereste mehr zu sehen, also vermutlich schon ein paar Jahre.« Henning Kirchhoff richtete sich auf und kletterte die Leiter hinauf. Die Männer von der Spurensicherung begannen mit der vorsichtigen Bergung der Knochen und des umgebenden Erdreiches. Es würde eine Weile dauern, bis das Skelett in die Rechtsmedizin transportiert werden konnte, wo Henning und seine Mitarbeiter es gründlich untersuchen würden. Immer wieder wurden bei Tiefbauarbeiten menschliche Knochen gefunden; eine genaue Beurteilung der Leichenliegezeit war wichtig, da Gewaltverbrechen gegen das Leben, bis auf Mord, nach dreißig Jahren verjährten. Erst wenn Alter und Liegezeit des Skeletts feststanden, ergab ein Abgleich mit den Vermisstenfällen einen Sinn. Der Flugbetrieb auf dem alten Militärflughafen war
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