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Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)

Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)

Titel: Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
Autoren: Holly Goldberg Sloan
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versetzt.
    Clarence war erst sechs Wochen fort, da wurde sie von einem Auto überfahren. Laut Polizeibericht befand sie sich nach einem halben Dutzend süßer Cocktails auf dem Heimweg, als sie plötzlich mitten zwischen die Autos lief. Unmöglich zu entscheiden, ob Selbstmordgedanken im Spiel waren oder Gedankenlosigkeit oder beides. Schon am Unfallort wurde sie für tot erklärt, aber trotzdem noch ins Krankenhaus gebracht.
    Die Krankenschwester, die ihre Leiche registrierte, war dieselbe, die schon vor vierzig Jahren Dienst gehabt hatte, als Säugling Shelly eingeliefert worden war. Damals war sie noch eine junge Frau gewesen, die gerade die Schule verlassen hatte. Jetzt war sie Mitte sechzig und hatte
Arthritis in den Knien.
    Aber sie konnte sich noch gut erinnern.
    Kopfverletzung schrieb sie auf den Totenschein und fügte in letzter Sekunde noch Vorbestehende Erkrankung in Klammern hinzu. Sie hielt es für richtig, mit offenen Karten zu spielen.
    Sechs Monate später trat der Chef der örtlichen Polizei in den Ruhestand. Der neue diensthabende Leiter, dem in erster Linie daran gelegen war, auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Gemeinde einzugehen, stammte nicht aus dem Ort. Da nun niemand mehr auf aktuelle Berichte über die vermissten Jungen drängte, wurde der Fall als weniger dringlich eingestuft.
    Shellys Mutter verstarb im darauffolgenden Jahr an einem Schlaganfall und danach gab es niemanden mehr, in dessen Obhut man die Jungen hätte geben können, selbst wenn man sie gefunden hätte. Die vermissten Border-Kinder blieben ein ungelöster Fall, der in Wirklichkeit abgeschlossen war.
    Aber das wusste Sam natürlich nicht.
    Er stellte sich vor, wie seine Mutter in ihrem alten Haus auf sie wartete. Nicht mal in seinen Fantasien suchte sie draußen in der Welt nach ihnen. Sie saß neben dem Telefon, starrte aus dem Fenster und sehnte sich danach, dass er irgendwann durch die Haustür und direkt in ihre Arme marschieren würde.
    Aber mit der Zeit verblasste diese Vorstellung genauso wie das Bild, das er von ihr in Erinnerung behalten hatte, bis er sie schließlich, wenn er überhaupt noch an sie dachte, als gesichtslosen Schatten vor sich sah. Sie rückte immer weiter ins Dunkle, das ganze Haus hatte sich verdunkelt und verlor seine Gestalt.
    Doch jetzt, da er wie gebannt auf der Holzbank in der hintersten Reihe der First Unitarian Church saß, spürte er, wie ihn ein vertrautes, längst vergessenes Gefühl überkam. Irgendwo war seine Mutter und versuchte, ihn zu erreichen. Versuchte, ihm einen Weg nach Hause zu zeigen.
    Denn hatte sie nicht genau dieses Lied gespielt? Hatte sie ihm nicht I’ll Be There vorgesungen? Kannte er die Melodie nicht deshalb so gut?
    Kaum hatte Sam diese Verbindung hergestellt, löste sich die ständige Verkrampfung in seinem Bauch.
    ***
    Emily wusste, dass sie einen roten Kopf hatte.
    Dunkelrot. Ihren Freundinnen erzählte sie immer, wenn ihr das passiere, handle es sich um eine rein chemische Reaktion, die damit zu tun haben musste, dass ihre Mutter skandinavische Vorfahren hatte – irgendetwas mit dem Blutdruck. Nora, ihre beste Freundin, hatte einmal in einer Zeitschrift gelesen, dass Leute mit rotem Kopf häufiger als andere an Kehlkopfkrebs erkrankten.
    Aber vielleicht hatte sie das auch nur erfunden.
    Wie verwirrend. Aber alles war jetzt so verwirrend.
    Der Junge, der Mensch, der Fremde, der da in der letzten Bank saß, rief in ihr ein seltsames Gefühl hervor. Lag es an ihm oder an ihr? War dieses Gefühl echt oder projizierte sie es nur auf ihn? Aber war Singen nicht etwas, bei dem man anderen die eigene Seele offenbarte? Und zeigte sie nicht sowieso immer viel zu deutlich, was sie fühlte?
    Der Chor stimmte ein. Sie sangen alle miteinander I’ll Be There. Und auf einmal war es vorbei.
    Die Orgel spielte die letzte Note. Aber anstatt ein paar Schritte zurückzutreten und wieder ihren Platz im Chor einzunehmen, schob sie sich zwischen den anderen Sängern und Sängerinnen hindurch zur Treppe und floh.
    Sie lief den dunklen Gang hinter dem Altar entlang, öffnete die Hintertür und stürzte hinaus ins grelle, klare Licht.
    ***
    Sam sah, wie sie die Flucht ergriff.
    Und er verstand sie völlig.
    Er war ja auch sein ganzes Leben lang davongelaufen. Das Mädchen mit den glänzend braunen Haaren und den Tränen in den Augen, das so falsch sang, war verschwunden.
    Der Chor sang weiter, nahtlos war er zu einem anderen Lied übergegangen. Doch auch Sam war jetzt aufgesprungen. Es
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