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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Aufsichtsratsmandate, Beraterverträge, Reden, Bücher. So vieles ist möglich. Wenn nur die Wähler nicht wären. Die Wähler sind furchtbar. Sie sind immer unzufrieden, sie stellen dumme Fragen, sie haben keine Ahnung – und das Schlimmste: Sie haben die Macht.
    »Politik als Beruf« hieß der berühmte Vortrag von Max Weber aus dem Jahr 1919. Er schrieb darin, die Politik sei ein »Betrieb« und mithin eine Sache für »Berufspolitiker«. Diese Ansicht hat sich durchgesetzt. Das ist ein Problem. Je mehr die Leute sich tatsächlich ihres Verstandes bedienen – und der modernen Kommunikationsmittel –, desto weniger mögen sie sich als Praxismaterial von Berufspolitikern herumschieben lassen.
    Aus Politikersicht ist es ganz idiotisch, ausgerechnet die Leute mit der souveränen Macht auszustatten, die nun wirklich keine Ahnung haben: die Bürger. Angela Merkel soll nach einem langen EU-Gipfel einmal gesagt haben: »Die Leute sollen uns Politiker die Politik machen lassen, weil wir so viel mehr davon verstehen.« Das Zitat ist nicht gesichert. Dass es ein weitverbreitetes Sentiment ausdrückt, davon kann man getrost ausgehen.
    Kurt Beck, der langjährige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, hat es kürzer gefasst: »Können Sie mal das Maul halten einen Moment!«, beschied er bei einer Feier zur Deutschen Einheit in München einen Zwischenrufer. Und als der Zwischenrufer darauf antwortete: »Ich bin nur ehrlich«, rief Beck ihm hinterher: »Sie sind nicht ehrlich, Sie sind dumm.« Der junge Mann hatte den alten Ministerpräsidenten darauf aufmerksam gemacht, dass Bayern den Nürburgring und den Betzenberg bezahle, also das millionenschwere Rennbahndesaster in der Eifel ebenso wie den Heimathügel des 1. FC Kaiserslautern. Dumm war das durchaus nicht. Sondern eine Darstellung des Länderfinanzausgleichs. »Auch ein Politiker muss sich nicht alles gefallen lassen«, ließ Beck über seine Sprecherin nachher verlauten. Hier wäre das also die Wahrheit, die er sich nicht gefallen lassen muss.
    Auf die Politik als treibende Kraft einer zivilgesellschaftlichen Rückeroberung sollte man sich nicht verlassen. Sie hat wenig Grund, der bürgerlichen Sehnsucht nachzugeben. Auch die Medien stehen zu oft auf der falschen Seite. Wir müssen unsere Sache selber in die Hand nehmen. Wir haben unsere Verantwortung abgegeben. Die Unverantwortlichen, das sind ja wir selbst. Wir müssen den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit finden. Aber ohne Mut zur Radikalität wird das schwer. Ohne Mut zur Radikalität werden wir jenen qualitativen Punkt nicht erreichen, von dem Badiou spricht. Die Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft gegen die Partikularinteressen der Habenden kommt nicht kostenlos. Kants »sapere aude« setzt Mut voraus. Und zwar den Mut, nicht nur zu denken, sondern zu handeln. Der berühmte Spruch, den wir als »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« übersetzen, ist Teil einer Horaz-Epistel. Und im Original eröffnet sich da noch eine andere Richtung: »Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, incipe.« Das heißt: »Wer erst einmal begonnen hat, hat damit schon zur Hälfte gehandelt. Trau dich zu verstehen! Jetzt fang an!« Dimidium facti habet . Wer das Denken beginnt, hat den halben Weg zur Handlung schon hinter sich gebracht.
    Die andere Hälfte des Weges geht sich dann leichter. Die Idee der Revolution ist lächerlich geworden. Aber man würde schon gerne der Verurteilung zu Zynismus auf Lebenszeit entkommen. Und man möchte auch die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich dem iPhone-Jünger aus München auf Dauer noch andere Glücksquellen erschließen lassen. Es ist schließlich nicht nur seine Sache, was er mit seiner Seele anfängt. In Griechenland war der Privatmann bekanntlich der Idiot. Thukydides lässt den Staatsstrategen Perikles sagen: »Wir sind die Einzigen, die einen Bürger, der keinen Sinn für den Staat hat, nicht für ein ruhiges, sondern für ein unnützes Mitglied desselben halten.«
    Das ist eine Frage der Verantwortung – die jeder für sich hat, jeder für den anderen und jeder für sich gegenüber dem anderen. Wir sind eingewoben in einem Netz aus Verantwortung. Es gibt daraus kein würdevolles Entkommen.
    Nachdem das Kreuzfahrtschiff »Costa Concordia« vor der Insel Giglio gesunken war, floh der Kapitän. Das war nicht strafbar. Es gibt kein Gesetz, das bestimmt, der Kapitän müsse bis zuletzt an Bord bleiben. Es ist Seemannsbrauch und Seemannsehre, die
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