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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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Kappen-Robin. Und es hat keinen Sinn, ihm die Schuld zu geben. Seine Unhöflichkeit ist ja nicht beabsichtigt. Er ist nicht aggressiv. Und er scheint meiner Tochter aufrichtig zugetan zu sein. Mir ist des Öfteren aufgefallen, dass sein Ausdruck zärtlicher wird, wenn er sie ansieht. Ist das nun Liebe oder nicht? Aus dem Gedächtnis würde ich sagen, das ist Liebe. Ich sollte mich glücklich schätzen. Ich habe ihn nie mehr als zwei Dosen Bier trinken sehen, und er nimmt offenbar keine Drogen. Wobei ich das nicht mit Sicherheit ausschließen kann. Aber Clare muss so oder so ihr eigenes Leben führen, ob in meinem Haus oder anderswo. Und sie kann das Bett teilen, mit wem sie will. An diesen Aspekt will ich gar nicht erst denken. Nein, es liegt nicht an ihm. Das Ganze greift viel tiefer als das.
    Ich entschied mich, mit der Geschichte von John und Sabiha anzufangen, als wir uns neulich im Paradiso trafen. Ja, ich hatte beschlossen, für einen allerletzten Wurf aus dem Ruhestand zu treten. Das wird wohl niemanden überraschen. Zwar hatte ich mich ernsthaft zur Ruhe setzen wollen, aber diese Geschichte kam mir vor wie ein Geschenk der Götter – wie sollte ich es ablehnen? Ein Geschenk von Sabihas alten Göttern. Die der verspielten Sorte. Warum nahm ich es also nicht endlich an? Dafür hatte ich keinerlei befriedigende Antwort gefunden. Mehr noch, ich wusste ganz genau, dass ich es bis ans Ende meiner Tage bereuen würde, wenn ich mir ihre Geschichte entgehen ließe, ohne es wenigstens einmal zu versuchen. Und so setzte ich mich vor ein paar Tagen abends an meinen Schreibtisch und verbrachte mehrere Stunden mit der Lektüre meiner gesammelten Notizen, um zu sehen, was sich möglicherweise daraus ergab. Es war alles da. Von A bis Z.
    *
    Es war an einem herrlichen Melbourner Herbsttag. Der Herbst ist hier die schönste Jahreszeit. Die drückende Sommerhitze ist weg und die Sonne erwärmt die Luft gerade so, dass man bequem auf eine Jacke oder einen Pullover verzichten kann, es ist windstill, höchstens eine oder zwei unschuldige weiße Wolken ziehen vorbei. Das muss man erlebt haben. An solchen Tagen sind die Menschen glücklich. Man wird von Unbekannten gegrüßt. Sogar die jungen Frauen lächeln mich an. Und niemand hat es eilig. An solchen Tagen stehen chinesische Studenten in der Tram auf und bieten mir ihren Platz an.
    John und ich saßen nach dem Mittagessen auf dem Bürgersteig vor dem Paradiso. Alle Tische waren besetzt. Um uns herum wurde in mindestens drei Sprachen angeregt geplaudert und gelacht. John erzählte mir, er habe Australien bei seiner Rückkehr nicht wiedererkannt, es habe sich so vieles verändert, aber anders, als er erwartet hätte. Lachend sagte er: »Als wir hierherzogen, fühlte sich Sabiha in Carlton heimischer als ich.« Ab und zu segelte ein großes welkes Blatt aus der Platane über uns herab, und eine der jungen Frauen vom Nebentisch schnappte lachend danach. Als ich ihr dabei zusah, fiel mir ein, wie ich der kleinen Clare früher erzählt hatte, dass unsere Wünsche wahr werden, wenn wir ein fallendes Blatt erhaschen. Gemeinsam rannten wir über die Eichenwiese im Botanischen Garten, jagten fallenden Blättern nach, während Marie von der Picknickdecke aus zusah oder mit dem Block auf den Knien zeichnete. Marie verwandelte ihre Welt immer in Zeichnungen. Nie spielte sie mit uns, aber sie sah es gern, wenn Clare und ich uns austobten. Es war eine magische Zeit für uns drei. Clare war damals etwa im Alter der kleinen Houria. Ein kleines Mädchen voller Vertrauen und Zuversicht. Es brach mir fast das Herz, wenn ich sie über die Wiese rennen sah, mit dürren Beinchen, die an Uhrzeiger erinnerten. Wenn ich heute Kinder so rennen sehe, bleibe ich mit einem Kloß im Hals stehen. Eigentlich macht es mir nichts aus, alt zu sein oder noch älter zu werden, aber angesichts der Schönheit dieser Kinder bedaure ich, dass mein Leben bald vorbei sein wird, für immer. Es ist ein eher nüchternes Bedauern, es bringt mich nicht zum Weinen, aber es ist echt.
    Ich dachte, John wäre mit seiner Geschichte fertig. Er hatte mich bei Sabiha und Brunos Sohn in der Küche zurückgelassen, ein ergreifendes Bild, das Chez Dom war geschlossen, ein trauriger, verlassener Ort, den es nicht länger geben sollte. Der junge Mann tat sein Bestes, um das Andenken seines ermordeten Vaters in Würde zu
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