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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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sie es eine Ewigkeit in der Schultasche mit sich herumgeschleppt hat. Ab und zu hat sie das Buch vor meinen Augen hochgehalten und mir ein aufmunterndes Lächeln geschenkt.
    Â»Hawthorn hat gewonnen, Dad«, sagte Clare.
    Kappen-Robin setzte sich auf und erhob seine Bierdose. »Wir haben Collingwood plattgemacht! Und ich war live dabei, Ken!« Er trank und setzte die Bierdose wieder auf dem Tisch ab. »Jetzt sind wir auf den dritten Platz aufgerückt.«
    Allmählich wurde mir klar, dass er eine Antwort von mir erwartete. »Ist ja toll, Robin. Hawthorn ist spitze! Auf die Hawks!« Ich beugte mich vor und schlug mit meinem Glas gegen seine Dose. »Hawks vor, noch ein Tor!«
    Die beiden geben mir das Gefühl, ich sei stumpfsinnig und könne mich nicht ausdrücken. In ihrer Gegenwart kommt mir mein Sprachvermögen abhanden, und dann hangele ich mich von Wort zu Wort, während sie meine Unbeholfenheit, meine Verletzlichkeit, meine sinn- und zusammenhanglosen Bemerkungen, meinen völligen Mangel an Coolness und Szenewissen ungerührt zur Kenntnis nehmen. Sie erwarten es nicht anders. Das ist das Verstörende. Wenn ich mit John zusammen bin, fühle ich mich jung und voller Zuversicht. Ich fühle mich wie früher. Als ich alles Mögliche in Angriff nehmen konnte. Die Führung innehatte. Für diese beiden bin ich ein alter Mann, und das geben sie mir auf jede erdenkliche Weise zu verstehen, ohne es einmal aussprechen zu müssen. Buchstäblichkeit, das Gegenteil von Kunst, ist nicht erforderlich. Sie tun es, ohne nachzudenken.
    *
    Mittwochabend kommen sie alle zum Abendessen. Ich weiß, das müsste ich mir nicht antun. Aber ich möchte mir den durch und durch egoistischen Wunsch erfüllen, Sabiha an unserem alten Esstisch sitzen zu sehen, eine schöne tragische Prinzessin aus exotischen Gefilden, die einen unserer antiken Kristallbecher in der Hand hält, während der Rotwein im Kerzenlicht schimmert wie Ochsenblut. Ich möchte sie posieren lassen wie ein Porträtmaler, wie Max Ernst es für Die Einkleidung der Braut mit seinem Modell getan hat. Was für ein Gemälde! Höchst erotisch und rein zugleich. Ich wüsste gern, was Sabiha davon halten würde. Es hängt in Venedig. Allein das ist ein Grund, dorthin zu fahren. Das letzte Mal, dass wir im Esszimmer ein Abendessen veranstaltet haben, war Jahre vor Maries Tod. Damals haben wir mit solchen geselligen Runden aufgehört. Wie stumpfsinnig ist es wohl, dass ich Sabiha auf diese Weise erleben möchte? Ist es charakteristisch für einen alten Mann ? Das ist etwas, das ich meiner Tochter niemals anvertrauen werde. Manches behält man ausschließlich für sich.
    Mittwoch ist anscheinend der einzige Abend, den Sabiha erübrigen kann. Das verunsichert mich. Allerdings gibt es so vieles, das mich heutzutage verunsichert. Mein Leben hat keinen Fluss mehr, das ist das Problem. Die Frage ist eher, was mich denn nicht verunsichert. Ich bin unschlüssig, ob ich sie am Mittwoch ganz leger in der Küche empfangen soll, mit kleinen Häppchen und einem Dutzend Bierdosen, oder soll ich im Esszimmer die großen Geschütze auffahren, um ihnen die Ehre zu erweisen? Mein Traumbild kann ich nur im Esszimmer verwirklichen. Clare hat mir nicht angeboten, zu kochen. Und ich habe sie nicht darum gebeten. Kappen-Robin wird wohl da sein, mit dem Kopf auf dem Tisch. Ich habe Clare gefragt: »Warum kann er bei Tisch nicht aufrecht sitzen wie alle anderen?« Und sie hat nur »Dad!« gesagt. Daraufhin habe ich das Thema fallen lassen. Seine Beine füllen unter dem Tisch allen verfügbaren Raum aus, während seine Arme die ganze Tischplatte in Beschlag nehmen. Ihm fällt gar nicht auf, dass auf dem Tisch Dinge stehen, die er leicht umwerfen könnte. Wie mag es erst im Bett sein? Wahrscheinlich kauert Clare ganz klein in einer Ecke. Wenn er hier ist, habe ich immer Angst, ihn anzurempeln, wenn ich mich dazusetze.
    Und er ist ständig hier. Ich habe das Gefühl, dass er bei uns eingezogen ist. Ganz sicher bin ich mir nicht. Ich habe Clare gefragt, bin aus ihrer Antwort aber nicht schlau geworden. Ich verstehe die beiden nicht. Wir gehören nicht mehr derselben Welt an. Venedig ruft. Es macht keinen Spaß mehr hier. Hat es nie gemacht. Von mir aus können sie das Haus haben. Was soll ich in meinem Alter schließlich mit einem Haus?
    Es liegt aber beileibe nicht nur an
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