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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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sich, spürte die Wärme ihres Körpers und dachte an das winzige Wesen, das in ihr heranwuchs, vollkommen unwissend und unschuldig. Was für ein Anfang! So winzig klein. Ein neues Leben. Sein eigenes hatte er bisher vergeudet.
    Während er langsam in den Schlaf driftete, kamen ihm wieder Bilder dieser furchtbaren Nacht in den Sinn, André und Simone, die mit ihrer Tochter verstört auf der nassen Straße standen, vom Blaulicht der Polizeiautos angestrahlt, wie Flüchtlinge, die man aus ihrem Heim vertrieben hatte. Der alte Arnoul Fort, die Kavi-Brüder und ihre Kunden umringten sie und starrten stumm auf die Szenerie, mit funkelnden Augen im wirbelnden, regendurchdrungenen Licht. Die unheimliche Stille, die bei aller Hektik herrschte, weit und breit kein Araber in Sicht. Die Absurdität des Ganzen.
    Sabihas unwillkürlich zuckendes Bein riss ihn wieder halb aus dem Schlaf. Wie gern hätte er die Uhr zurückgedreht, um Bruno doch noch zu retten. Er stellte sich vor, wie er Nejibs Bruder seelenruhig das Messer aus der Hand nahm und ihn bat, das Chez Dom zu verlassen. Dann hätte wieder Frieden geherrscht. Sabiha hätte ihre Lieder zu Ende gesungen, Bruno wäre allmählich nüchtern geworden und hätte sich bei allen entschuldigt … Sabiha schlief tief und fest. Er würde einen Vorschuss auf seine Kreditkarte benötigen, um die Tickets nach Australien bezahlen zu können … In seinem Traum war Tolstois Geheul ein rasender Zug, der unerbittlich auf John zuhielt und ihn mit seinem unsteten Licht blendete. Es gelang ihm nicht, sich vom Gleis zu bewegen, und der Zug schoss ihm aus der Finsternis entgegen. Keuchend fuhr er aus dem Schlaf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Plötzlich weinte er. Er konnte gar nicht mehr aufhören. Er weinte um alles.

S abiha kehrte an einem Dienstag von der Beerdigung ihres Vaters zurück. Das Café war still und verlassen. Im Speisesaal standen die Stühle umgedreht auf den Tischen. Die Vorhänge vor dem großen Fenster waren zugezogen – zum allerersten Mal. Um kurz nach zwölf stand Sabiha in der Küche, um das Mittagessen für sich und John zuzubereiten, als ein Schatten auf die Wand fiel. Sie drehte sich um. In der Hintertür stand ein junger Mann von achtzehn oder zwanzig Jahren. Er ähnelte Bruno so sehr, dass es gespenstisch war. Und er trug eine Kiste Tomaten.
    Â»Guten Morgen, Madame Patterner«, sagte er. »Ich bin Bruno Fiorentino, der Sohn. Ich werde das Geschäft meines Vaters weiterführen, denn er hätte es bestimmt so gewollt.« Er war sehr nervös, und seine Rede wirkte wie einstudiert. »Mein Vater hatte große Achtung vor Ihnen und Monsieur Patterner. Meine Familie gibt weder Ihnen noch Monsi eur die Schuld am tragischen Schicksal, das uns ereilt hat. Meines Wissens haben Sie selbst erst vor kurzem Ihren Vater zu Grabe getragen. Dafür möchte ich Ihnen das herzliche Beileid meiner Familie aussprechen. Ein solcher Verlust ist schwer zu verkraften.« Der junge Mann trat einen Schritt vor. »Bitte nehmen Sie diese Kiste Tomaten als Geschenk meiner Familie an. Von nun an bin ich zuständig, wie mein Vater es gewollt hätte.« Er setzte die Kiste auf dem Boden ab und richtete sich wieder auf.
    Sabiha konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie fasste sich an die Kehle, so bewegt war sie. Sie fürchtete, weinen zu müssen, wenn sie den jungen Mann ansprach.
    Â»Ich kann Ihr Geschenk leider nicht annehmen«, sagte sie. »Und für Sie lohnt es sich nicht, wieder herzukommen. Unsere Gäste sind alle fort. Sie sind vor der Polizei geflohen und halten sich entweder versteckt oder sind nach Tunesien zurückgekehrt.«
    Â»Es werden neue Gäste kommen.« Er lächelte. »Ihre Kochkunst ist berühmt.«
    Sein Lächeln ließ Bruno in den Augen seines Sohnes wieder lebendig werden.
    Â»Das Chez Dom ist unwiderruflich geschlossen«, sagte sie und wandte sich ab, um ihre Tränen zu verbergen. »Wir ziehen nach Australien. Gehen Sie«, forderte sie ihn freundlich auf. »Gehen Sie bitte.« Sabihas Gesicht war von Tränen überströmt. Sie wischte sie nicht weg. »Es tut mir so leid. Aber ich kann nichts für Sie tun.« Sie wandte sich ihm wieder zu und sagte noch einmal: »Gehen Sie, Bruno, bitte!«
    Er warf einen hilflosen Blick auf die Kiste, bevor er sie aufhob, und murmelte: »Aber die Tomaten sind doch ein
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